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Die Magie der Bilder oder die Kunst der Täuschung

Springt nicht, sondern schreibt: Autor Heinrich Steinfest

Ursprünglich wollte der Schriftsteller Heinrich Steinfest, geboren 1961 in Australien, aufgewachsen in Wien, Maler werden. Deshalb verbrachte er viel Zeit in den Wiener Museen, vor allem im KHM.  Dort findet auch Klara Ingold, die zentrale Figur in Steinfests neuem Roman, Sprung ins Leere, ihren Beruf, fast eine Berufung. Klara ist Aufseherin im KHM, wo sie nicht nur Bilder betrachtet, sondern gern auch deren Besucherinnen.

Die Eingangshalle des Kunsthistorischen Museums. © Andrew Bossi / WikipediaLange dürfen sich die Leserinnen nicht im Wiener Kunsthistorischen Museum aufhalten, denn Klara will das Rätsel um ihre unbekannte Großmutter lösen, nimmt sich eine Woche Urlaub, um von München über Wuppertal nach Japan zu reisen. Die Großmutter, eine unbekannte Künstlerin namens Helga Blume, ist urplötzlich verschwunden, ihre zweijährige Tochter, Britta, hat sie wortlos verlassen, was diese ihr niemals verziehen hat. Ungewollt hat Britta selbst eine Tochter in die Welt gesetzt, eben Klara, die Bilderliebhaberin, die rechtzeitig erkannt hat, dass ihr zur Künstlerin Talent und Inspiration fehlen und deshalb lieber vorhandene Kunstwerke bewundert, als selbst Mittelmaß zu produzieren. „Stilleben mit Zitrone°,  Niederländischer Meister aus dem 17.Jh. Das mit I. L. gezeichnete Bild könnte von Isaac Luttichuys (1616 –1673) stammen und in der jungen Klara die Liebe zur den Bildern geweckt.  Quelle: Auktionshäuser  Lempertz, lempertz.com. Abgebildet im Rahmen einer Auktion von 2011.
Steinfest produziert alles andere als Mittelmaß, seine überquellende Fantasie, sein mit Wissen und Rechercheergebnissen zum Platzen gefülltes Gehirn und sein Erzählstil sind außergewöhnlich und einmalig. Er will in jedem Satz soviel sagen, dass er mit dem Seitenspiegel nicht zurechtkommt und immer wieder Fußnoten anfügen muss.
Yves Kleins Sprung in die Leere“,  bei dem er in wahrhiet auf einer Matte gelandet ist. © Quelle: arte.tv. Aus der ARTE-Dokumentation „Artjacking!“Der Titel des Romans, eine Kopfnote quasi, bezieht sich auf ein Bild, das sich vor 60 Jahren in das kollektive Gedächtnis aller Liebhaberinnen, Kennerinnen und Wichtigtuerinnen in der Kunstblase eingeprägt hat: Sprung in die Leere nannte der für seine monochromen blauen Bilder berühmte bildende und Performance-Künstler Yves Klein (1928–1962) eine Fotografie, auf der sein Sprung aus dem Fenster festgehalten ist. Lange Zeit wurde gerätselt, ob Klein tatsächlich gesprungen sei. Doch Jahre später gestand er, dass er von einem Sprungtuch aufgefangen worden sei, das wegretuschiert worden ist. Kunst oder Fake, das ist hier die Frage oder auch, ist Kunst tödlich? Die berühmte Schwebahn in Wuppertal, wo Klaras Suche nach der Großmutter ihren Ausgang nimmt. © mbdortmund / Wikipedia
Um Kunst und Magie, um Original und Kopie, um Täuschung und Plagiat, um Bewunderinnen und Liebhaberinnen, ja in Bilder Verliebte, geht es in Steinfests dickem Roman. Mitunter liest er sich wie ein Krimi, wird zum Reisebuch, um sich in ein Puzzlespiel zu verwandeln, in dem immer neue Teile auftauchen, die sich magisch miteinander verbinden. Der rumänische Performer Ciprian Muresan hat auf Sprung, Matratze und Retusche verzichtet und eine Variation von Yves Kleins Sprungfoto geschaffen, indem er sich ohne Vorspiel auf den Gehsteig gelegt hat. Quelle: arte.tv / ARTE-Dokumentation „Artjacking!Magie spielt immer wieder eine Rolle, wenn Klara bei der Suche nach der Großmutter, die längst ihren 90. Geburtstag gefeiert oder nur schlicht überlebt haben muss, in eine Sackgasse gerät. Nicht nur Bilder, auch deren Betrachterinnen, die ins Bild hineingehen oder aus ihm heraustreten, sind in Steinfests Theater zu sehen. Es entsteht ein Mise-en-abyme-Effekt , Bild in Bild, welches ist das Original?  Die Magie wird augenfällig, wenn ein veritabler Magier auftritt. Nochc eine Sprunvariante: Die 29jährige mit einer Cerebrallähmung lebende Künstlerin Lou Chavepayre springt 2018 und vergisst ihre Lähmung: „Wenn ich springe, habe ich endlich einen Körper“, beschreibt sie ihr Erlebnis. © Quelle: arte.tv / Arte-Dokumention „Artjacking!“Der international bekannte Meister Gyōja der das Publikum mit spektakulären Illusionen in Staunen versetzt, gibt auf einer einsamen Insel eine Vorstellung und Klara lernt in persönlich kennen. Magie ist Kunst, Kunst ist Magie und man sieht nur, was man zu sehen erwartet. Eine Erfahrung, die nicht nur Klara macht.
Dieses Bild entstand in der ARTE-Grafikabteilng, aus der gelähmten Künstlerin Lou Chavepayre ist im Sprung eine Superwoman geworden. Magie oder Täuschung? © Quelle arte.tv / ARTE-Dokumentation „Artjacking!“Helga Blume, die Großmutter, ist das unsichtbare Zentrum, um das der Roman von der Suche nach ihr kreist. Sie ist nämlich auch ins Leere gesprungen, oder doch nicht. Das war 1957 also drei Jahre, bevor Monsieur Klein den freien Fall probte. Oder auch Meister Gyōjanicht. Wer hat, wen nachgeahmt? Konnte Helga Blume womöglich in die Zukunft sehen und Yves Klein voraus plagiieren? Diese Frage ist nicht das einzige Rätsel, das die Leserin ohne Hilfe nicht zu lösen vermag. Magome, wo die gesuchte Großmuttervermutich gelebt hat. Der Druck aus dem 19. Jh. zeigt Magome als eine der 69 Stationen der Kiso Straße. © Wikipedia
Heinrich Steinfest lebt inmitten seiner Figuren, die diesmal aus dem Kunstuniversum herabgestiegen sind, entweder als Ausübende oder als Admirateurinnen. Die Bösen gibt es natürlich, und sogar solche, weder gut noch böse, doch schwergewichtig, die morden, ohne Mörder zu sein. Jedenfalls tauchen auch eine Vielzahl von realen Personen auf, die dennoch die Träume und Trancen des Autors passiert haben und sich so zu Romanfiguren gewandelt haben, auch wenn man sie im Wiki finden kann. Klara wird aurf ihrer Reise von Georg Salzer begleiter, weil er wenig spricht und mehr als Beiwagerl funktioniert vergisst man ihn leicht. Sein Lieblingsbild, vor dem er jede Mittagspause verbringt, bleibt jeoch im Gedächtnis: „Der große Wald“  von Jacob van Ruisdael. © Google Art Project / KHM WienSo ist auch das ungezählte Personal, das Steinfest aus seinem Hut zaubert (ein weißes Kaninchen taucht nicht auf, doch die Rede ist auch von dem), ein Beispiel für das nicht Fassbare in der Kunst, die immer auch Täuschung ist. Es sind ja die Betrachterinnen, die Liebhaberinnen, alle die, die nicht nur vor einem Bildnis stehen oder sitzen, sondern auch in es hineingehen, die ein Werk zu einem Kunstwerk machen. Im Roman Sprung ins Leere wimmelt es also nur so von Künstlern und Kunstwerken, lebendigen und unbelebten. Die Vulkaninsel Aogoshima, wo Meister Gyōja mit seiner Zauberschau das angereiste Publikum in erstaunen versetzt. © Quelle: Ministry of Land Infrastructure Transport and Tourism / Wikipedia
Keine Sorge, die Frage warum die Großmutter ohne Abschied aus Wuppertal verschwunden ist und wo sie nach ihrem Sprung gelandet ist, wird geklärt. Nach nahezu 500 Seiten sind alle Rätsel gelöst du alle Bilder, die echten und die fingierten, entschlüsselt. Schade eigentlich! Ich würde noch gern weiterreisen, mit Klara Ingold, ihrem Begleiter Georg Salzer und dem schweigsamen Leibwächter Osada und auch die festgemauert auf einer Klippe stehende Villa des Filmregisseurs Takashi Itō besuchen. Eine rote Vespa, ein Riesending, saust durch die Luft direkt auf Klara zu. Georg Salzer verhindert den tödlichen Zusammenstoß. © vespahandel.at vespahandelatGeorg, gut 40 Jahre älter als Klara, hat ihr am Ring, während eine rote Vespa durch die Luft gesaust ist, das Leben gerettet, indem er sie, die dort erstarrt gestanden ist, einfach umgestoßen hat. So lernten die beiden einander wirklich kennen, obwohl sie einander schon längst kannten. Klara, die Museumsaufseherin und Georg, der Admirateur, den sie bei sich den Mittagsmann genannt hat, weil er täglich um die Mittagszeit ins KHM gekommen ist und sich vor das Bild Der große Wald von Jacob van Ruisdael gestellt hat. Pieter Bruegels berühmtes Bild „Die Bauernhochzei“ samt dem Bein ohne Mensch (Ausschnitt). Ein ungeöstes Rätsel seit 500 Jahren. © Google Art Project / wikipediaKlara sah ihn von hinten als Teil des Bildes, das übrigens auch ein Rätsel aufgibt. Georg ist einer von den Nicht-Künstlern, der erkennt, dass er über den ersten Satz seines Romans nicht hinauskommt und deshalb hat er, damals als Trauerredner beschäftigt, seinen letzten Auftritt mit den Worten: „Ich schreibe nie wieder ein Wort, jawohl. […]“ beendet. Er begegnet einem Pendant in Japan, der mehr als erste Worte, ja sogar viele Seiten zustande gebracht hat, doch niemals fertig wird. Umeo Susa, der Klara und ihre Mitreisenden ins Innere eines Vulkans führt, gibt sein Schreiben nicht freiwillig auf. Er wird gezwungen. Das Hotel Sanatorium Kurhaus Semmering. Wo das Finale der Geschichte von einer goldenen Katze eingeschnurrt wird. © Henry Kellner / Wikipedia  Das ist keine andere Geschichte, sondern passiert inmitten der Geschichte von Klara und ihrer Großmutter. Diese Geschichte führt von Japan zurück auf den Semmering, wo sich der Anfang vom Ende und die Lösung aller Rätsel abzeichnet. Als Überraschung gibt es ein weiteres Sprungbild. Frappierend. Doch dieser Gruppensprung ins Leere hat nicht wirklich stattgefunden. Das eindrucksvolle Bild ist eine am Lichttisch entstanden Täuschung. Auch Fotos können lügen. Doch sowieso hat jede Schauende ihre eigene Wirklichkeit.
Noch einmal: Schade! Da Ende gefällt mir nicht, doch die Figuren machen ja, was sie wollen, oder das Schicksal mit ihnen vorhat.
Der Fußnoten kann auch ich mich nicht enthalten:
Durch ein Kippbild findet Klara auf dem Semmering, der seit Mitte des 19. Jahrhunderts zu allen Jahreszeiten ein Eldorado der Wienerinnen ist, das einstige Luxushotel Kurhaus Semmering, auch Grand Hotel Semmering genannt. In der Zeit des Romans, das ist 2025, ist es total verfallen. Etwa 55 Jahre davor, war das einstige Luxushotel allerdings ein Erholungsheim. Meine Großmutter, von den Urenkelinnen Puppenomi genannt, weil in der Vitrine ein kleiner Matrose mit schlenkernden Armen und Beinen gesessen ist, eine pensionierte Lehrerin, nahm eines sommers ihren Aufenthalt im Kurhaus Semmering. Die Urenkelinnen können sich nicht mehr erinnern, die Enkelin sehr wohl. Wir hatten schönes Wetter.
Die zweite Fußnote betrifft Pieter Brueghel den Älteren und dessen berühmtes Bild Die Bauernhochzeit. Autor Steinfest meint, kaum jemand würde das ominöse dritte Bein, ein Bein ohne Mensch, bemerken. Für mich ist dieses Bein im Schnabelschuh die erste Assoziation zu Breughel. Schon in der Schule haben wir darüber debattiert: Irrtum oder Scherz? Übrigens hängt nicht nur Die Bauernhochzeit im Wiener KHM, sondern auch Der große Wald, vor dem Georg neuerdings am Donnerstag zur Abendöffnungszeit steht und die vierte Figur sucht, die er einmal links aus dem Wald kommen gesehen hat, oder gedacht hat, er sähe sie.

Heinrich Steinfest: Sprung ins Leere. Piper 2024, 496 Seiten. € 24,70.
Am 18. April 2024 liest der Autor aus seinem Roman Sprung ins Leere im Wiener Kunsthistorischen Museum. Beginn: 19 Uhr