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Erwachsenwerden ist auch für Hexen schmerzhaft

Stefan Bachmann, Meister des Schauerromans. © Ben Koechlin

Eine Überraschung: Zita, eine junge Waise, die als Dienstmädchen ihr Leben verdient, erfährt, dass sie ein Schloss geerbt hat. Blackbird Castle gehört einer Familie Brydgeborn, so ist auch Zitas Familienname. Doch sie wird ihre Familie nicht wiedersehen, sie ist die Letzte dieser Dynastie, einer einst mächtigen Dynastie von Hexen. Die letzten Hexen von Blackbird Castle vereint Fantasie und Magie und handelt vom Erwachsenwerden eines naiven Mädchens, verpackt in gothic Fantasy.

Strawberry Hill House. Hier hatte der Autor Horace Walpole einen Albtraum, der ihn zur ersten gothic Story inspirierte. @ wikipedia. Stefan Bachmann, 1993 in Colorado geboren, doch in der Schweiz aufgewachsen, hat seinen ersten Roman, The Peculiar  (Die Seltsamen, Diogenes 2014), noch als Schüler geschrieben und dabei auch an eine junge Leserschaft gedacht. Doch lassen sich auch Erwachsene von Magie mit einer Prise Horror begeistern. Bachmann steht in der langen Reihe der Autor:innen sogenannter Schauerliteratur, die auf Englisch treffender gothic novel genannt wird. 
Den Ausdruck gothic oder gotisch hat der englische Autor Horace Walpole geprägt. 1764 hat er den Roman The Castle of Otranto. A Story herausgegeben. Angeblich hat Walpole den Text einer 1529 in Neapel gedruckten Erzählung ins Englische übersetzt. Auf die Begeisterung innerhalb der Literaturszene folgte mit der zweiten Auflage des Schauerromans die Enttäuschung. Walpole outete sich als Autor des nur scheinbar mittelalterlichen Textes. Horace Walpole, 1756 porträtiert von Sir Joshua Reynolds. © wikipedia / gemeinfrei Den Leserinnen war es egal, ob über Das Schloss von Otranto im Mittelalter oder zur Zeit der Aufklärung geschrieben worden ist, der Roman war längst zum Bestseller geworden. Die dritte Auflage hat der Autor dann mit dem Untertitel A Gothic Story versehen, um darauf hinzuweisen, dass die Handlung im Mittelalter angesiedelt ist. Mit dieser Nebenbemerkung hat Walpole flugs eine separate Schublade im literarischen Gattungskasten geöffnet, die seit mehr als 300 Jahren immer wieder gern geöffnet wird. Die Elemente, sprechende Statuen, geheime Türen, verschlossene Zimmer, sich wandelnde Treppen oder blutende Bilder sind immer noch die gleichen. Schon Walpole hat sich nicht mit purem Horror begnügt, sondern in seinem Roman das verfallene Schloss und die Suche nach dem wahren Erben als Metapher für den Zerfall alter Werte benutzt. Die Ästhetik (gotisch, vor allem wegen der Orientierung an der Architektur des Mittelalters, genannt) dieser ersten gothic Story hat in der Folge das gesamte Kunstschaffen, ob Literatur oder Musik, Film und Streamingdienste und auch die um 1980 entstanden Gothic-Subkultur beeinflusst. Walpole hat erzählt, dass er zu seinem Roman von einem Albtraum inspiriert worden ist, der ihn in seinem Haus im Südwesten Londons, dem im neugotischen Stil erbauten Strawberry Hill House, geplagt hat. 
Stefan Bachmann kann auf eine lange Reihe von Kolleg:innen blicken, die mit ihren gothic Novels das Publikum begeistert haben. Von Anne Radcliff (1764–1823) bis Anne Rice (1941–2021), von Mary Shelly (1797–1851) bis Daphne du  Maurier (1907–1989) ließe sich die Liste bis heute fortsetzen, und auch durch jene Autoren ergänzen, die gotische Motive verwendet haben, wie E. T. A. Hoffmann (1776–1822), Oscar Wilde (1854–1900), H. P. Lovecraft (1890–1937) oder Stephen King (* 1947). Geister, Hexen, die Suche nach dem echten Erben, Geheimnisse, altes Gemäuer und wallende Nebel hat schon Shakespeare in seine Tragödien eingebaut. Bachmann steht seinen Vorläufern in nichts nach. Eugène Delacroix: „Mephistopheles, Prolog im Himmel“, 1882. Illustration zu Goethes  „Faust“. © Google Art ProjectZita, die ihre Geschichte selbst erzählt, wird von einer Vogelscheuche auf das weit entfernte Schloss eingeladen. Sie lässt Schaufel und Besen stehen, packt ihr Binkerl und macht sich auf den Weg. Natürlich ist das Schloss kein Schloss mehr, sondern eine Ruine, in der die Mauerstücke herausfallen und der Regen durch das Dach tropft. Dort wird ihr von der strengen Mrs. Cantaker erklärt, dass ihre Familie tot ist und sie das Amt der Hexe übernehmen muss. Mrs. Cantaker wird ihre Lehrerin sein und ihr das Hexenhandwerk beibringen. Sie selbst ist nur die Verwalterin im verfallenden Schloss, sie hat nicht die richtige Abstammung, um eine Hexe zu sein. Die Hexen, Zitas Mutter war die mächtigste aller, sind in der Welt, um das Böse fernzuhalten und das Gute zu vermehren. Dazu muss Zita ihre Hexenkräfte, von denen sie anfangs nichts weiß, aktivieren. So könnte die kleine Zita in Bachmanns Geschichte aussehen. Illustration aus der virtuellen gothic gallery. © rare-gallery.com Dass Mrs. Cantaker Zita zwar unterrichtet, doch keineswegs die Absicht hat, der Erbin das Szepter zu übergeben, wird bald klar. Personal gibt es kaum mehr, lediglich ein junges Paar, Bram, der Koch und Minnifer, das Dienstmädchen, beide geplagt von der ekelhaften Mrs. Cantaker, stehen Zita zur Seite. In einem verschlossenen Zimmer sitzt die plastifizierte Familie Brydgeborn, ein grauenvoller Anblick. Nicht nur bei diesem Anblick ist Zita unter Tränen der Verzweiflung nahe. 
Nichts ist, wie es scheint und Zita ahnt bald, dass sie sich auf niemanden verlassen kann, gibt aber nicht auf und stellt sich mutig den gemeinen Feinden und gefährlichen Fallen, die in jedem Winkel und hinter jeder Türe lauern. Je mehr Macht sie gewinnt, desto besser funktioniert auch ihr Gedächtnis, sie erinnert sich allmählich an die Geschehnisse, die sie als Kleinkind im Waisenhaus landen ließen. Doch auch Mrs. Cantaker kommt ihren dunklen Zielen näher, sie hat sonderbare Gestalten als Helfer, und langsam fürchtet Zita, dass sie niemandem trauen kann, auch Bram und Minnifer scheinen auf der Seite des Bösen zu sein. Cover der Originalausgabe des ersten Bachmann-Romans, „The Peculiar“  / „Die Seltamen“. © HarperCollins, 2012
 Bachmann spart nicht an unheimlichen, auch grotesken Elementen, lässt seiner Fantasie üppigen Lauf, das macht Freude und schürt die Spannung. Auch wenn von Beginn an klar ist, wie die Geschichte ausgehen muss, ist jeder neue Einfall des Autors eine magische Überraschung. Die handelnden Personen sind bestens charakterisiert, es muss gar nicht alles ausgesprochen werden, man sieht sie handeln und kennt ihre Absichten. Die Bande der Familie, Freundschaft und Tapferkeit, Verantwortung und Empathie sind die Themen, die unter den Flügeln der hilfreichen Krähe Vikka, in Brams Keksen und hinter der geheimnisvollen blauen Treppe dezent verborgen sind. „Die letzten Hexen von Blackbird Castle“, Buchcover. © Diogenes VerlagDer Originaltitel, Cinders and Sparrows (Schlacke und Spatzen), bezieht sich auf eine Erlebnis Zitas, das ihr das weiche Herz zusammendrückt. Eine Spätzin hat ihren Kleinen das Nest im Kamin gebaut. Ahnungslos entfacht die stets frierende Zita ein Feuer. Todesmutig stürzt sich die Spatzenmutter in die Flammen. Da nützen auch keine Hexenkünste, die Zita ohnehin erst lernen muss.
Auch mit diesem Roman, es ist sein fünfter, wird der Autor einen großen Kreis von Leserinnen erfreuen. Spannend für die digitale Generation, vergnüglich für die analoge.

Stefan Bachmann: Die letzten Hexen von Blackbird Castle, Originaltitel. Cinders and Sparrows (Schlacke und Spatzen), aus dem amerikanischen Englisch von Stefanie Schäfer. Hardcover, 288 Seiten. € 18,50. Diogenes 2023