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Patrick Modiano: "Unterwegs nach Chevreuse"

Patrick Modiano, Nobelpreis 2014. © Frankie Fouganthin

Einen neuen Roman von Patrick Modiano zu beginnen, kommt dem Besuch eines geliebten Ortes gleich, den man immer wieder besucht, um festzustellen, dass er derselbe geblieben ist und doch ganz anders aussieht. Im jüngst erschienenen Buch wandert die Hauptperson nicht nur durch Paris, sondern sucht die verlorene Zeit auch im nahen Chevreusetal. „Unterwegs nach Chevreuse“ ist nicht nur für seinen Protagonisten, Jean Bosmans, eine Reise in die Vergangenheit, sondern auch für den Autor selbst, hat er doch seine Kindheit in der Straße von Dr. Kurzenne verbracht.

Chevreuse: Spazierweg entlang der Yvette @ solosophie.comEgal welchen von Modianos mehr als 40 Romanen man gelesen hat. man ist dem Autor auf immer verfallen. So ist der Leserin nicht nur Jean Bosmans, eine Art Alter Ego des Autors, bekannt, sondern sie ist bereits mit vielen andere Figuren, Straßen, Plätzen und Cafés vertraut. Auch in der Umgebung von Chevreuse, in der Rue du Docteur Kurzenne in Jouy-en-Josas etwa, bei der Schule und nahe dem Naturpark etwa, sind Verehrerinnen des Nobelpreis-gekrönten Autors schon umherspaziert. Bosmans pendelt nicht nur zwischen Chevreuse und einer noblen Wohnung im Pariser Bezirk Auteuil, sondern auch zwischen den Jahrzehnten. Das Haus in  der Rue du Docteur Kurzenne 38 liegt nicht in Chevreuse, sondern im nahen Jouy-en-Josas, Nicht nur Bosmans, die Romanfigur, kennt es aus der Kindheit, sondern auch der Autor. © https://www.jouyenvironnementpatrimoine.frEr sieht Gespenster und tatsächlich existierende Personen, denkt an die Kindheit und die wilden Jahre als 20-jähriger in Paris. Schmuddelige Cafés, undurchsichtige Typen, vielleicht sogar Verbrecher, Kleinkriminelle jedenfalls, die Frauen und Mädchen sind verführerische Lügnerinnen, wechseln ihre Namen und verschwinden plötzlich, um nur noch in den Tagträumen Bosmans aufzutauchen. Wie der Schriftsteller Bosmans, der mit 20 beginnt, seine Kindheitserinnerungen niederzuschreiben, taumelt auch die Leserin zwischen Traum und Wirklichkeit, schlingert zwischen Realität und Fantasie, zwischen Paris und Chevreuse und zwischen allen Altersstufen von Bosmans.
In „Chevreuse“ (Originaltitel) erzählt Modiano vom etwa 70-jährigen Schriftsteller Bosmans, der sich an den 20-jährigen Bosmans erinnert, der sich an das Kind Jean Bosmans erinnert. Ein Mise en abyme? Plattencover: "la douce dame" von Serge Latour, dem Bosmans auf der Straße begegnet ist. © discogs.comJedenfalls ein Labyrinth, ein wunderbares Labyrinth, das man nur ungern verlässt. Wie ein Murmeltier erscheint der Chansonier Serge Latour, dem Bosmans auf der Straße begegnet. Diesmal hört er im Café  Latour mit dem Chanson von der süßen Dame, „Douce Dame …“, das ihn an die junge Camille erinnert, die dieses Lied gern gesummt hat. Sie hat ihn nach Chevreuse gelotst, wo er als Kind gelebt hat. Nicht zufällig, die Zwielichtigen wollen etwas herausfinden, Camille ist ein Lockvogel mit recht bunten Federn. Ein Hauch von Kriminalroman verändert die Atmosphäre. Jean, Modiano nennt ihn selten mit dem Vornamen, erinnert sich, dass im Haus in der Rue du Docteur Kurzenne 38 viel gehämmert und gebohrt worden ist. Er weiß noch genau, wo dieses Loch in der Wand ist und denkt an einen Schatz. Doch er behält seine Beobachtungen, von welchen er als junger Mann nicht mehr weiß, ob er ihnen trauen kann, für sich.
Weil mehrere Roman Modianos bis in 1960er Jahre zurückführeMeist ist Sommer in der leeren Stadt, doch einmal stapft Bosmans auch durch das winterliche Paris. © Flavio Ensiki rove.men als Bosmans um die 20 war und durch Paris irrt, ist die Leserin mit Jean B. sehr viel vertrauter. Die komischen Figuren, die den alten Bosmans bedrängen, sind die gleichen wie damals.  Auch die Leserin wird von Erinnerungen bedrängt,  etwa an Figuren in den Romanen „La Ronde de Nuit / Abendgesellschaft“, „Les Boulevards de Ceinture / Außenbezirke“ oder an das Erstlingswerk "La Place de l’Étoile", auch so ein Verwirrspiel, nur Bosmans ist noch nicht aufgetreten. 

Ein 20-Jähriger kommt nach Paris, um zu studieren, hat kein Geld, wohnt in armseligen Dachkammern, irrt durch die Stadt, und macht im Café Bekanntschaften mit etwas anrüchigen Gestalten und Eindruck auf junge Mädchen und reife Damen, die ihn Äther schnüffeln beibringen.
Hotel Chatham, 1885. Bosmans wird belogen, wenn sich Michel da Gama als Direktor des Hotels vorstellt. Abbildung in "Harpers Handbook for Travellers in Europe". © wikimedia Modianos erster Roman, der, an dem Bosmans im aktuellen Roman, „Chevreuse / Unterwegs nach Chevreuse“, arbeitet, ist auf Französisch 1968 erschienen, doch erst 2004 ist die von Modiano überarbeite Neuauflage, übersetzt von Elisabeth Edl, auf Deutsch erschienen. Auch auf Deutsch hat dieser Erstling den Originaltitel behalten: "La Place de l'Éfoile".  Sei’s drum, eine Chronologie gibt es bei Modiano ohnehin nicht, wo auch immer man eine Seite in einem Roman Modianos aufschlägt, man ist sofort gefangen von der Atmosphäre und dem, was zwischen den Zeilen lauert. Obwohl das Meiste im Kopf des Helden passiert, fehlt es Modianos Romanen nicht an Spannung, das Böse, das Gemeine, das Unappetitliche lauern auf jeder Seite. In einem Café im Bahnhofsviertel St. Lazare beginnt der junge Bosmans seinen ersten Roman.© tripadvisor.com Der Mensch besteht nur aus seinem Gedächtnis, auch wenn dieses tarnt und täuscht. Mit jeder neuen Erzählung verändern sich die Erinnerungen, lassen sich auch verdrängen und wieder an die Oberfläche holen. Ohne Erinnerungen sind wir nur noch verwirrt. Buchcover ©  Hanser Verlage„Ich habe mich sozusagen selbst verloren“, sagte Auguste Deter immer wieder zu ihrem Arzt Alois Alzheimer. Sie war die erste Patientin, bei der Alzheimer Anfang des vorigen Jahrhunderts die später nach ihm benannte Krankheit diagnostiziert hat.
Ich meine, alle Figuren in Modianos Romanen, doch natürlich besonders Jean Bosmans, haben sich sozusagen selbst verloren und wollen sich wiederfinden. Bosmans gelingt es ebenso wenig wie den windigen Gestalten, die in Chevreuse nach einem Schatz suchen und auch diesen nicht finden. Kann aber gut sein, dass es ihn gar nicht gibt. Bosmans, so erinnert er sich heute, wollte damals nichts mehr wissen, die Männer machen ihm Angst, er beschließt, das Erlebte aufzuschreiben, doch was er weiß, zu wissen glaubt, gibt er nicht preis.

Patrick Modiano: „Unterwegs nach Chevreuse“, „Chevreuse“, aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Hanser, 2022. 160 Seiten. € 22.70. E-Book: € 16,99.