Heinrich Steinfest: „Der betrunkene Berg“, Roman
Einen „betrunkenen Berg“, kann nur bei Heinrich Steinfest gefunden werden. Betrunken oder Schnee bedeckt, der neue Roman des österreichischen Autors eignet sich so recht als Lektüre an einem warmen Spätsommertag, ist es doch dort oben, in 1.765 Meter Höhe eisig kalt. Die Wolken hängen tief, die Schneeflocken wirbeln, drei Menschen und eine Alpendohle warten mit warmen Herzen auf den Frühling.
Der Autor, mit dem vierdimensionalen Sprachgefühl und jeder Pore voll von Geschichten, erzählt von den Dreien, vom Berg und dem Wetter voller Überraschungen und davon, was die Menschen im Innersten umtreibt. Bei allem Amüsement, das diese Geschichte von der Buchhändlerin Katharina Kirchner, die in luftiger Höhe Bücher über die Welt der Berge zum Verkauf arrangiert hat, bietet, verankert sie der Autor fest auf dem Grund eines gar nicht so seltenen Problems. Darüber ließe sich vortrefflich nachdenken, so die Leserin den mutig genug ist, in die dunklen Ecken der Erinnerungen zu leuchten. Doch zunächst darf man sich unterhalten und Herrn Steinfests ausgefeilte Formulierungen genießen, die schwarzen Wolken tauchen erst später auf. Katharina genießt auch, nämlich in der toten Saison, wenn die benachbarte Alpenvereinshütte geschlossen ist, 100 Meter unter dem Gipfel nahezu klösterliche Klausur. Unerwartet, wie so oft, jedoch wird sie zur Herbergsmutter, gibt fremden Besuchern Unterschlupf, öffnet die vorsorglich für die Wintermonate im Schutzhaus eingelagerten Vorräte und das Feuer im Kamin in ihrer kleinen Wohnung hinter dem Laden. Ob sie, trotz mangelnder Kundschaft, elegant gekleidet als „Blusen-Frau, die hart im Nehmen ist“ in ihrem Bereich waltet, oder sich doch gebirgskonform in ein Dirndl hüllt, ist mir nicht berichtet.
Den ersten Gast findet Katharina auf einer ihrer täglichen Wanderungen zum Gipfel des Kogels. An diesem Tag, der Erzähler weiß nicht mehr so genau, welcher Wochentag es war, ortet Katharina beim Aufstieg in einer Kuhle einen Menschen, der es nötig aufgetaut zu werden. Katharina verzichtet, ihren Weg nach oben fortzusetzen und macht sich samt tiefgefrorenem Mann auf den Abstieg. Dieser wird von ihr sorgfältig aufgetaut, er ist zwar ziemlich enttäuscht, dass er sein Leben nicht verloren hat, kann aber nicht sagen, wer er ist, woher kommt und wie er heißt. Es stellt sich bald heraus, dass er Kochen kann. Doch Koch ist er keiner. Katharina nennt ihn Robert und im Laufe der Geschichte erfahren die Leserinnen auch, wie er wirklich heißt und wer er ist. Würde Katharina sich für die bildende Kunst interessiert, die Autor Steinfest übrigens als malend und formend selbst betreibt, oder auch für den Boxsport, würde sie den Fremden, der sich selbst nicht kennt, sofort erkennen.
Bevor aus gutem Grund auch die Lawinenexpertin eintrifft, ist es eine Alpendohle, die im Bücherberg, so hat Katharina ihren Laden getauft, aufgetaut werden muss. Das Taufen wird Katharina zur Gewohnheit, das heißt feierlich getauft wird nicht, wie Robert erhält auch der Vogel einfach einen Namen: Sharp. Die Lawinenspezialistin der oberösterreichischen Landesregierung muss nicht getauft oder benannt werden, sie kann den Ihren nennen: Linda Hellmund, gebürtig in Hamburg.
Der Berg, nebenbei bemerkt, hat keinen Namen, er bekommt auch keinen. Doch um das für diesen fast zweitausend Meter hohen Gipfel bedeutungsvolle Personal zu vervollständigen, sei noch erwähnt, dass zwei unsichtbare Gäste im Bücherberg anwesend sind. Denn neben den Lebensgeschichten des Trios, die Autor Steinfest zu erzählen hat, wird auch die Geschichte von Simon und Emmy erzählt. Sie haben gegen Ende des 19. Jahrhunderts den Dorfklatsch beflügelt, als sie gemeinsam eine Nacht auf dem Berggipfel, also diesen Berggipfel, auf dem sich längst auch die Leserinnen befinden, verbrachten, verbringen mussten. Simon und Emmy waren gemeinsam aufgestiegen, weil Simon das Bedürfnis hatte, auf dem unbekreuzigten Gipfel, das fehlende, jedoch obligate, Gipfelkreuz samt dem notwendigen Büchlein, in dem sich alle Gipfelstürmer und Stürmerinnen verewigen konnten, anzubringen. Skandal? Klar. Simon war der örtliche Pfarrer und die abenteuerlustige Emmy sehr jung. Die Nacht aber hatte weniger mit Erotik zu tun als mit einem Unwetter, wie es auch Katharina und ihre Gäste heimsuchen wird. Diese Geschichte von Emmy und Simon ist zu einem Roman geworden, mit dem Katharina und Robert, später auch Linda, vorlesend die Abende im Bücherberg verbringen. „Selbstporträt eines lächelnden Mannes auf der Spitze des Berges“ ist. Autor Steinfest liebt es knapper: „Der betrunkene Berg“. Robert hat noch gar nicht gewusst, dass er ein Bildhauer ist, als er täglich, noch bevor der Morgen graute, den Schnee zu formen begann. Das letzte Werk ist „Der betrunkene Berg“, aber da wusste er bereits alles.
Dieses „alles“ ist das Herz des Romans, das, was die drei Hauptfiguren im Innersten zusammenhält. Sharp, die längst wieder flügge ist und nur aus der Ferne grüßt, ist damit nicht belastet. Sie entdeckt keine Schuldgefühle im Vogelherzen, zumal sie auch nicht danach sucht. Robert aber, findet angesichts des nahenden Todes sein Gedächtnis wieder, wie er tatsächlich heißt, hat Katharina schon bei einem Seitenblick in ein altes Magazin erfahren. Aber auch Sie und Linda finden Vergrabenes und Verdrängtes. Wie mit den Schuldgefühlen weiterleben? Sich mit einem hingeworfenen „Ich entschuldige mich“, ist es nicht getan, bei wem denn auch? Die bekannten drei Ave-Maria oder seien es doppelt so viel, helfen auch nicht. Um sich wieder frei zu fühlen, muss man schon hoch oben den Tod nahen sehen. Irgendwie gebeichtet wird doch auch und sei es nur sich selbst. Doch Sensenmann hin, Quiqui her, die Gefahr ist gebannt, die Vergangenheit geklärt, der Himmel blau und nicht nur Linda verspürt statt des Nagens ihes Gewissens das eines knurrenden Magens. Robert macht sich an die Arbeit.
Heinrich Steinfest: „Der betrunkene Berg“, Piper 2022, 240 Seiten. € 22,70.
Für das Foto des Autors (auf dem Birkenkopf bei Stuttgart) bedanke ich mich beim Fotografen Heinz Heiss.