Alex Capus: „Susanna“, Roman
Gerne erzählt Alex Capus von Menschen, Schweizerinnen und Schweizer zumeist, aber nicht so bekannt wie es Uhrwerke oder Schokolade einst waren. Diesmal ist es eine Frau, Susanna Faesch, die sich später als Malerin CarolineWeldon genannt hat, deren Leben Capus als Basis für eine mit Empathie und Respekt geschriebenen fesselnden Roman nimmt. Capus recherchiert genau, besucht auch die Orte der Handlung und mischt dann gekonnt historische Fakten und einfühlsam Erdachtes. Das Bild einer eigensinnigen, freiheitsliebenden Frau, die am Beginn des industriellen Zeitalters lebt. Liebevoll verwandelt der Autor die historische Person zu einer sympathischen Romanfigur.
Susanna, die Heldin des Romans, ist 1844 Basel geboren, 1921 in New York gestorben und 2017 gar zu Filmehren gekommen, weil sie den Lakota Häuptling Sitting Bull porträtiert hat. Fulminant ist der Einstieg: 1849, mit fünf Jahren, fällt Susanna bei einem traditionellen Fest am Fluss in Wasser. Sie wird vom „Wilden Mann“, den ein Pferdeknecht spielt, gerettet. Das kleine Mädchen erschrickt aber vor dem Kerl, „der doppelt so groß, dreimal so breit und fünfmal so schwer war wie sie“ und sticht ihm „in einem Akt entschlossener Notwehr mit dem rechten Zeigefinger das linke Auge aus.“ Entschlossen, sich durchzusetzen, wenn auch nicht immer in Notwehr, bleibt Susanna ihr ganzes Leben. Dieses Leben in Basel im 19. Jahrhundert beschreibt Capus als anschaulichen Film: Basel war protestantisch, puritanisch, engstirnig und bigott. Lebensfreude war so unbekannt wie bunte Bänder im Haar der Frauen.
Susannas Mutter – zwei Söhne, eine Tochter, die Familie ist wohlhabend – verliebt sich in einen Freund ihres Mannes. Der Revolutionär Karl Valentiny muss Deutschland 1848 verlassen, schlüpft bei seinem Kriegskameraden Faesch unter. Seine Aufenthaltsgenehmigung läuft ab, er emigriert nach Amerika. Maria Faesch vergisst ihn nicht, bittet ihren Mann um die Scheidung, weil sie Valentiny folgen will. Lukas Faesch willigt unter der Bedingung ein, dass sie nie mehr zurückkommt. Die Tochter nimmt sie mit, die Söhne bleiben beim Vater.Valentiny, der in Brooklyn eine Arztpraxis eröffnet hat, ist zwar etwas überrascht, wenn Maria und Susanna vor seiner Tür stehen, doch er nimmt Mutter und Tochter auf, heiratet Maria und ist Susanna ein angenehmer Vater. So wächst Susanna in New York heran, erlebt das anbrechende industrielle Zeitalter, sieht wie Edison einen ganzen Straßenzug elektrisch beleuchtet und feiert die Eröffnung der Brooklyn Bridge. Schon als Kind hat Susanna gemalt und nun kann sie als gesuchte Porträtmalerin ihren Lebensunterhalt verdienen. Sie heiratet einen Untermieter, den jungen Schweizer Arzt Claude. Ihre Freiheit, das lustige Studentenleben, gibt sie jedoch nicht auf. Sie ist Künstlerin und lässt sich von niemandem einengen. Als sie das Kind eines anderen Mannes erwartet, zieht Claude aus dem gemeinsamen Haushalt aus. Den Sohn nennt sie Christie.
Es ist Christie, der Susannas Interesse an der indigenen Bevölkerung, den nordamerikanischen „Indianern“, weckt. Christie, inzwischen ein Schulbub, will unbedingt in die Cowboy- und Indianershow gehen, die in Brooklyn Station macht. Susanna verbietet es. Menschen sind keine Zirkuspferde, meint sie. Maria, die Großmutter denkt da anders, und Christie ist glücklich. Seine Begeisterung für die Lakotas und den alternden Häuptling Sitting Bull nimmt nicht ab, doch als Susanna eines Tages beschließt, „alles hinter sich zu lassen“, will er das gewohnte Leben nicht aufgeben. Die Welt draußen, fremde Länder und Völker interessieren ihn weniger als sein Fußballspiel nach der Schule. Einzig zu den Indianern würde er reisen. Und so geschieht es. Das letzte Kapitel von Capus Roman widmet sich der langen und gefahrvollen Reise zu Sitting Bull und dem kurzen Aufenthalt bei den freundlichen Lakotas. Christie freundet sich mit dem Sohn von Sitting Bull an und die beiden verbringen einen glücklichen Sommer. „Wie die Sommerfrischler“, erzählt der Autor. Susanne schenkt „dem Chief“ das Bild, das sie in New York nach einem Foto gemalt hat. Dann ziehen Mutter und Sohn weiter. Und Alex Capus macht einen Punkt unter die Geschichte.Es ist nicht allein die Persönlichkeit der Susanna Faesch, die sich später Caroline Weldon genannt hat, doch das interessiert Capus nicht, die den Roman lesenswert macht. Es ist die Atmosphäre, die er aufbaut, die Bilder, die er vom ausgehenden 19. Jahrhundert, der Stadt Basel und dder Metropole New York entwirft, und auch vom Westen Amerikas, wenn sich Susanna und Christie auf die Reise nach South Dakota machen. Die politischen Gegebenheiten klammert er aus, lieber erzählt er mit gewohntem Einfühlungsvermögen von einer Frau, die entschlossen ist, ihr Leben so zu leben, wie sie möchte, ohne Rücksicht auf Verluste. Ihren Erfolg als Malerin, ihren Kampf um die Bürgerrechte der Lakotas und die dunklen Punkte in Susannas Lebensgeschichte zu beschreiben, überlässt er zugunsten eines wunderbaren Romans den Historiker:innen.
Alex Capus: „Susanna“, Hanser, 2022. 299 Seiten. € 25,70. E-Book: € 18,99. Hörbuch, gelesen von Alex Capus: € 25,70.