Patrick Modiano: „Unsichtbare Tinte“, Roman
Der französische Schriftsteller Patrick Modiano begibt sich wieder in den Palast der Erinnerungen, nimmt die Leserin an der Hand und führt sie durch Paris. Denn die Stadt an der Seine mit ihren Straßen und Gassen, Parks und Cafés ist nahezu immer Zentrum seiner Romane. Auch im jüngsten mit dem Titel „Unsichtbare Tinte“ ist es ein junger Mann, wieder einmal heißt er Jean, der versucht, seine flüchtigen Erinnerungen einzufangen, die um eine verschwundene Frau kreisen.
Es ist die erste Aufgabe, die Jean als Praktikant in einem kleinen Detektivbüro erhält: Er soll die vermisste Noëlle Levevre finden, ein Freund hat sie als vermisst gemeldet. Nach dreißig Jahren nimmt der die blaue Mappe wieder zur Hand und kehrt zurück in jene Zeit, da er jung war. Erinnerungen aber sind trügerisch, sie verschlingen und verwirren sich, führen in falsche Richtungen und haben viele blasse oder gar leere Flecken. Diese leeren Flecken sind für Modiano mit „Encre sympathique“, einer Geheimschrift, die zwar vorhanden, aber nicht sichtbar ist, geschrieben. „Encre sympathique“ ist der französische Ausdruck dafür und auch der Titel des knappen Romans. Der Erzähler verirrt sich selbst in den Erinnerungen, schwindelt vielleicht den Zuhörerinnen einiges vor. Auch als der Auftrag längst erfolglos beendet war, hört Jean nicht auf, Noëlles Spuren zu suchen, und findet immer Männer und Frauen, vor allem aber Männer, die sie gekannt haben oder gekannt haben wollen. Immer näher rückt Jean seinem Ziel, bildet sich ein, ihr als Schüler begegnet zu sein. Mit einem Schulkameraden, den er zufällig getroffen hat, reist er im Kopf nach Annecy, wo sowohl Jean, der Ich-Erzähler, wie auch Modiano selbst geboren sind. Im letzten Teil wechselt der Autor überraschend die Perspektive, verlässt die Ichform und berichtet in der dritten Person, als erzählte jetzt ein anderer aus der Distanz Jeans Geschichte. Klarer wird sie dadurch auch nicht, da sind zu viele Andeutungen, zu viele mit Geheimtinte beschriebene Stellen.
Immer wieder versteht es Modiano, der mehr als 30 Romane geschrieben hat, wofür er 2014 den Nobelpreis erhalten hat, seine Leserinnen in Bann zu schlagen. Paris ist grau, oft ist es Abend, die Cafés verraucht und die Aussagen unzuverlässig, doch Modianos Sätze sind in ihrer Einfachheit so schön, dass es völlig egal ist, ob Jean Noëlle von früher kennt, weil beide in der selben Stadt aufgewachsen sind, oder ob er sie am Ende tatsächlich in Rom findet und eine Affaire mit ihr beginnt.
Erinnerungen geben niemals die Realität wieder, diese Erkenntnis gibt auch einen neuen Blick auf die eigenen Erinnerungen. Ist man einmal mit Modiano in seinem brüchigen Gedächtnispalast gewesen, ist man ihm verfallen.
Patrick Modiano: „Unsichtbare Tinte“, aus dem Französischen von Elisabeth Edl, 3. Aufl. Hanser 2021. 144 Seiten. € 19,60.