Maarten ‘t Hart: „Der Nachtstimmer“, Roman
Der niederländische Schriftsteller Maarten ‘t Hart, (* 1944) meldet sich nach längerem SchweigenM mit dem kleinen Roman, „Der Nachtstimmer“ wieder zu Wort. Der Orgelstimmer Gabriel Potjewijd wird in ein südholländisches Städtchen geschickt, um dort die letzte Garrels-Orgel zu stimmen. Er scheint dort nicht willkommen zu sein und fühlt sich verfolgt. Was Gabriel zu berichten hat, entwickelt sich zum Thriller.
Maarten ‘t Hart hat Verhaltensbiologie studiert und ist auch ein Musikkenner und -liebhaber. Diesmal will er seine Leserinnen aber weniger seine Lieblingskompositionen empfehlen, sondern berichtet viel, fast zu viel, Wissenswertes über das Orgelbauen. Die berühmten Orgeln von Rudolf Garrels (1675–1750) und sein Lehrer Arp Schnitger (1648–1719) stehen im Mittelpunkt.
Wie viele Figuren in ‘t Harts Romanen ist auch Gabriel Pottjewijd ein Eigenbrötler, der sich am liebsten in Ruhe den Schleifladen, der Windanlage und allen anderen Problemen, die so eine alte Orgel bietet, widmet. Es gilt vor allem die „Hänger“ zu reparieren, das sind Töne, die weiterklingen, auch wenn die Finger die Taste nicht mehr drücken. Das ist eine anstrengende Arbeit, denn der Stimmer, arbeitet er allein, muss vom Windwerk zum Manual wechseln, was ein weiter Weg ist. Zu Gabriels Erstaunen empfiehlt man ihm ein junges Mädchen als Helferin. Lanna wird immer von ihrer Mutter begleitet.
Diese kommt aus Brasilien, ist die Witwe eines Fischers, der sie mitgebracht hat und dann gestorben ist. Mit südländischer Schönheit bezaubert sie die gesamte Männerwelt. Lanna, die etwa 16jährige Tochter, hat das Aussehen der Mutter nicht geerbt, die Bewohner:innen des Dorfes halten sie für zurückgeblieben. Für Gabriel ist sie ein „Gottesgeschenk“, weil sie alle seine Befehle versteht, die Orgel liebt wie er und auch Freude an der Arbeit zu haben scheint. Die Mutter spricht gebrochen Niederländisch, die Tochter spricht gar nicht, doch wenn die Mama nach Worten ringt, hat sie sofort den niederländischen Begriff bereit. Die bewacht Lanna mit Argusaugen, als wäre die Tochter das Ziel der männlichen Begierden.
Es dauert eine ganze Weile, bis die drei, Mutter, Tochter und Gabriel, miteinander vertraut werden. Er wird nach der Vormittagsarbeit zu Graciinha und Lanna zum Mittagessen eingeladen. Das gefällt den Dorfbewohnern, vielleicht ist es auch nur einer der abgewiesenen Freier, die Gabriel sein Glück nicht gönnen, gar nicht. Gabriel erhält Drohbriefe, fühlt sich von einem gelben Velo verfolgt und landet einmal sogar im Kanal, wo ihm erst Gracinha heraushilft. Dass er leicht einen Rettungsring erreicht hätte, haben ihm die glotzenden Dorfbewohner nicht verraten.
Gracinhas Freundlichkeit ist nicht gratis, sie hat Pläne mit Gabriel, und der weiß nicht, ob er in sie verliebt ist, oder nur der begabten Lanna eine bessere Zukunft als sie im Dorf zu versauern zu lassen, ermöglichen möchte. Der Showdown im Finale ist eines Cowboy-Films würdig. Danach, wenn alles geklärt ist, die Orgeln in der richtigen Stimmung sind, Graacinha und Lanna ihre Koffer gepackt haben, begeben sich drei Menschen, ein kleiner Mann, eine schöne Frau und ein junges Mädchen (weniger schön angeblich), eine Familie offensichtlich, zum örtlichen Bahnhof. Das gelbe Velomobil ist wieder da, kommt diesmal von vorne, doch der Zug fährt pünktlich ab, Gabriel Pottjewijd bewundert die vorbeiziehende Landschaft und huldigt seinem Kleinmut. Er denkt darüber nach, wie er die beiden Frauen wieder los wird, dass Gracinha wirklich aus purer Zuneigung bei ihm bleibt, kann er sich nicht vorstellen. In Groningen muss die zukünftige Familie umsteigen, und wie es der Zufall will, erlebt Gabriel eine letzte Überraschung. Sein älterer Bruder Hugo geht den Perron entlang. Gabriel erwartet eine Kopfwäsche. Der Leserin ist klar, dass Lanna ihre Ausbildung zur Orgelstimmerin erhalten wird.
Der sonderbare Titel ist dem Inhalt entsprungen. In der Kirche stört an Wochentagen ein wahrer Höllenlärm das feine Gehör des Orgelstimmers. Die Schiffswerft liegt in unmittelbarer Nähe. „Das Klirren der Ankerketten, das grässliche Heulen von pneumatischen Bohrern und sowie allerlei anderes Donnerdröhnen …“ machen das Arbeiten unmöglich. Weil er ohnehin von Albträumen geplagt ist und ihm auch die echten oder eingebildeten Bedrohungen Angst machen, fällt Gabriel leicht, sich des Nachts in der Kirche einzusperren und in Ruhe zu arbeiten.
Es ist schön, wieder einmal ein Buch von Maarten ’t Hart zu lesen, in die Atmosphäre seiner heimatlichen Landschaft und die liebevolle Beschreibung der Menschen einzutauchen. ‘t Hart erzählt mit einer Leichtigkeit, nicht nur in diesem heiteren Roman, sondern auch in den Büchern mit Tiefgang. Gregor Seferens, der die Werke ‘t Harts ins Deutsche überträgt, gelingt es, diesen schwebenden Ton und die besondere Stimmung wiederzugeben . Gleich erwächst die Lust, entlang der Kanäle zu spazieren, auf dem Damm zu sitzen und mit Zitaten gewürzt über das Alte Testament zu diskutieren, obwohl der Autor selbst aus guten Gründen kein Kirchgänger ist, und auch der bibelfeste Gabriel Kirchen nur betritt, wenn eine Orgel, womöglich eine verstimmte, auf ihn wartet.
Maarten ‘t Hart: „Der Nachtstimmer“, aus dem Niederländischen von Gregor Seferens, Piper 2021. Original: „De nachtstemmer“, 2019. 320 S. € 24,70