Manuela Golz: „Sturmvögel“, Romanbiografie
Emmy Seidlitz , die Heldin des Romans „Sturmvögel“, wird zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf einer kleinen Nordseeinsel geboren und stirbt mit über 80 Jahren in Berlin. Autorin Manuela Golz hat sich für das Porträt einer außergewöhnlichen Frau von der Lebensgeschichte ihrer Großmutter inspirieren lassen und erfreut die Leserinnen mit einer ebenso fesselnden wie unterhaltsamen Familiensaga, die auf einer wahren Geschichte beruht.
Emmys Vater war einer der letzten Walfänger auf der Insel. Die Familie lebte auf dem geerbten Hof, die Kinder mussten, wie in allen Familien, mithelfen, betreuten das Vieh, halfen in der Küche. Die strenge Großmutter war dagegen, als Vater Andries Emmy zum Schulbesuch anmeldete: Eine Frau braucht einen Ehemann und keine Bildung. Vater Andries Peterson dachte da anders, Emmy wollte lernen. Dann rief der Kaiser zu den Waffen, auch Andries musste in Krieg ziehen, Emmy wurde vom Schulunterricht befreit, als älteste Tochter wurde sie zu Hause gebraucht. Andries musste einrücken, zurück blieben die wieder schwangere Mutter und ihre vier Mädchen. Das fünfte Kind, Endlich ein Bub, kam tot zur Welt. Das hat die Mutter nicht verkraftet, sie ist gestorben, ohne ihren Andries wiederzusehen. Der kam als gebrochener Mann aus dem Krieg zurück und als auch die Großmutter starb, konnte Andries den Haushalt nicht mehr aufrechterhalten, die Mädchen wurden in alle Winde verstreut. Emmy war 14 geworden und musste ihren Unterhalt selbst verdienen. Der Lehrer verschaffte ihr eine Anstellung als Dienstmädchen auf dem Festland. Emmy wird nach Charlottenburg in die Großstadt Berlin geschickt, um bei den von Waldstettens zu dienen. Das freie Leben auf der Insel ist schmerzlich vermisste Vergangenheit, Emmy hat viel zu lernen, die schwere Arbeit macht ihr nichts aus, die ist sie gewohnt.
Die Tochter des Hauses Waldstetten, Marie-Christine, wird mit einem jungen Juristen, Hauke Seidlitz, verlobt. Doch der hat seine Augen auf Emmy geworfen. Nichts Ungewöhnliches in den Goldenen Zwanziger Jahren: junge Herren sollten sich „die Hörner abstoßen“, bevor sie zu braven Ehemännern werden. Hauke und Emmy genießen fröhlich ein heimliches Verhältnis, dessen Ende vorhersehbar ist. Emmy wird schwanger. Hauke reagiert entgegen jeglicher Konvention, überrascht seine aufgeblasene Mutter und die Familie Waldstetten und entscheidet sich gegen eine langweilige Ehe mit der wohlhabenden Marie-Christine und für das Abenteuer mit der armen, lebenslustigen Emmy.
Die Nationalsozialisten sammeln Anhänger, Hauke ist dabei und kaum noch zu Hause. Emmy muss mit ihren drei Kindern, Hilde, Otto und der nachgeborenen Tessa, bei der herrischen Schwiegermutter leben. Die hochnäsige Charlotte kann der Schweigertochter nicht verzeihen, Dienstmädchen in Kost und Logis gewesen zu sein. Nach einem Streit packt Emmy Kinder und Koffer und zieht aus. Von da an gestaltet sie ihr Leben ganz und gar selbst. Ehemann Hauke ist Sekretär eines hohen NS-Tiers und kümmert sich kaum um seine Familie. Erst wenn der Krieg zu Ende ist, kehrt er zu Frau und Kindern zurück und erkennt, dass er den falschen Weg eingeschlagen hat. Zu spät.
Manuela Golz weiß zu erzählen, geschickt verflicht sie die Jugendzeit Emmys auf der Insel mit ihrem letzten Lebensjahr in Berlin, berichtet abwechselnd aus Gegenwart (1994) und Vergangenheit (ab 1911), und gibt so nicht nur Einblick in ein an Hochs und Tiefs reiches Leben, sondern auch Überblick über ein ganzes Jahrhundert.
Am Ende wartet Emmy noch mit einer Überraschung auf, die vor allem ihren älteren Kindern, Hilde und Otto, den Atem verschlägt. Die beiden hatten den Zipfel eines Geheimnisses erwischt, von dem nur die Jüngste, Tessa, bereits wusste. Doch die Million, die sie bereits in Händen zu halten meinten, stellte sich nach der Testamentseröffnung als zerplatzter Traum heraus. Und Anna, die Emmy als Waisenkind bei sich aufgenommen hatte, hieß plötzlich Seidlitz und war zur Schwester unter Geschwistern geworden. Zähneknirschend mussten Hilde und Otto akzeptieren, dass sie ihre Mutter unterschätzt hatten. Emmy war eben „eine kleine Frau ganz groß“, wie Autorin Golz über ihre Großmutter, deren Leben sie als Basis für ihren Roman genommen hat, sagt, ein „Sturmvogel“ eben, ein guter Flieger, der sich jeglicher Wetterbedingung anpasst.
Manuela Golz: „Sturmvögel“, DuMont, 2021. 336 Seiten. € 22,70. E-Book: € 18,50.