Skip to main content

Gesuino Némus: „Die Theologie des Wildschweins“

Matteo Locci ist auch Gesuino Némus. © Elliot Edizione

Ein doppeltes Debüt: Mit dem literarischen Erstling des Sarden Matteo Locci beginnt auch der junge  Eisele Verlag eine Krimi Reihe. Unter dem Nom de Plume Gesuino Némus veröffentlichte Locci mit fast 60 Jahren seinen ersten Roman, „La teologia del cinghiale / Die Theologie des Wildschweins“, und begeisterte damit Publikum und Kritik. Fünf Preise ermunterten Gesuino Némus, weiter zu schreiben. Schon ein Jahr später, 2016, ist sein zweiter Roman erschienen, dessen Titel – „I bambini sardi non piangono mai / Die Kinder Sardiniens weinen niemals“ – deutlich macht, worum es Locci in seinen Romanen geht: Um seine Heimat, die Insel Sardinien und deren Bewohner*innen. Die „Theologie des Wildschweins“ ist eine sehr traurige Komödie, oder eine sehr komische Tragödie. Es kommt auf die Perspektive an.

In der Provinz Ogliastra liegt der fiktive Ort Telévras. ©  Lumburau Mura / wikimediaKurz nachdem, wie auf der gesamten Erdkugel, auch im sardischen Dorf Telévras die erste Mondlandung gefeiert worden ist, wird die Leiche des Vaters des kleinen Matteo, Bachisio Trudìno, gefunden. Alles deutet darauf hin, dass er ermordet worden ist. Mit der Suche nach einem Täter hat Carabiniere De Stefani wenig Glück. Einerseits versteht er die Bewohner*innen nicht, kennt nicht ihre Geheimisse und Rituale, andererseits strengt man sich in Telévras nie besonders an, nach Verschwundenen zu suchen. Das wird auch dem aus dem Piemont auf die Insel versetzten Carabiniere bald klar. Telévras könnte auch Jerzu sein, wo der Autor Matteo Locci geboren und aufgewachsen ist. ©  Manuel Mura / wikimedia Der Grund für das kollektive Schweigen, nichts gesehen oder gehört zu haben, ist weniger die Omertà, sondern die Armut der Leute. Eine Beerdigung kostet Geld, und wer spurlos verschwindet, tut seiner Familie einen doppelten Gefallen. „Spurloses Verschwinden nährt die Hoffnung, dass er noch am Leben sei, und begründet zugleich den Mythos, dass er sich dem Zugriff der Justiz zu entziehen wüsste.“ Auch Don Cossu ist nicht unglücklich über das Verschwinden Bachisios, nicht nur weil er aus der mageren Kollekte ohnehin nichts für ein Begräbnis beisteuern könnte sondern auch weil er Matteo, das musikalische Wunderkind, dem trunksüchtigen Vater endlich entziehen und Matteo liebevoll und ganz und gar unter seine Fittiche nehmen kann. Dass auch dann, als die Leiche gefunden wird, nicht gesagt werden kann, dass Niemand Bescheid weiß, ist übertrieben, denn Niemand, also Gesuino Némus, weiß genau, was geschehen ist. Der stumme aber aufmerksame und gar nicht dumme Bub ist von Matteo zum Freund erkoren worden, andere halten Gesui für zurückgeblieben, weil er nicht spricht. Nur Don Co‘ ahnt, dass Gesui (in Sardinien werden die Namen gern abgekürzt) das Zeug zum Schriftsteller hat.In Sardinien werden die Traditionen gepflegt. Hier beim jährlichen Trachtenfest, der Cavalcata Sarda. © Gianni Careddu / wikimedia Er ist auch der Haupterzähler der komplizierten zu Herzen gehenden Geschichte, deren Fortgang immer wieder von anderen Stimmen unterbrochen wird.
Dass bald auch Matteo verschwunden ist, bringt Don Cossu aus der Fassung, statt auf die Jagd nach Wildschweinen zu machen, irrt er durch den Wald und ruft nach Matteo. Vergeblich. Nur der stumme Niemand weiß, was passiert ist und wo Matteo sich versteckt hat. Er ist es, der die ganze komplizierte Geschichte auf seine Weise für die Nachwelt erhalten hat, denn er ist tatsächlich ein Schriftsteller geworden. Die Wildschweinjagd in der Nacht ist eine Leidenschaft der Bewohner von Telévras. © wald.deDen Titel seines Berichts hat er von Don Cossu entlehnt. Der, nicht nur ein Verehrer des sardischen Schnapses Fil ’e Ferru, sondern auch ein leidenschaftlicher Wildschweinjäger, hat in einem schwarzen Heft mit rotem Rand einen Text verfasst, dem er den Arbeitstitel „Die Theologie des Wildschweins“ vorangesetzt hat.

Das Wildschein ist wie ein Gebet. Mit Hunden ist es ein Rosenkranz. Ohne Hunde ein Te Deum. Und ohne Hunden, nachts und ohne Jagdschein, ein Hosianna.

Keine falschen Schlüsse bitte, Gesui hat nur den originellen Titel stibitzt, alles andere, was er je geschrieben hat – inzwischen sind in Italien bereits vier neue Bände aus Telévras erschienen – stammt sicher aus seiner Feder, auch wenn er einen Bleistift benutzt hat. Es liegt an den Leserinnen, ob diese wunderbaren, rätselhaften Geschichten auch pocco a pocco auf Deutsch erscheinen.
Matteo Locci hat sein Bestes getan, und es fällt ihm leicht, in die Haut von Gesuino Némus zu schlüpfen, ist er doch selbst Sarde durch und durch, auch wenn er aktuell in Mailand lebt. Die Tragödie spielt sich inmitten des Freudentaumels über die erste Mondlandung ab. Im Bild die Crew von Apollo 11: Neil Armstrong, Michael Collins, Buzz Aldrin. © wikipedia Geboren ist er 1958 im Jerzu in der Provinz Ogliastra, die 2016 in die Provinz Nuoro eingegliedert worden ist, und wie in Jerzu wächst auch in Telévras der allseits beliebte Cannonau-Traube und wird der „Eisendraht“, fil’ ’e ferru auf gut Sardisch, gebrannt. Wie liebevoll Némus seine Landsleute beschreibt, die Landschaft einbindet und mit dem Trick, das Geschehen in den Sommer der ersten Mondlandung zu verlegen, auch auf den Spagat hinzuweisen, den die Inselbewohner*innen zwischen dem Festhalten an Mythen und Traditionen und dem Anpassen an moderne Zeiten schaffen müssen. Was an den Küsten durch den Geldfluss der Touristenscharen sicher schon besser gelungen ist als im Inneren der Insel, wo die Armut und wohl auch manche Verbrechen noch nicht getilgt worden sind. Dass der Autor, ein Bub ohne Sprache, ein etwa Zehnjähriger, der kein Italienisch kann, einiges auf gut Sardisch sagt, Telévras liegt nahe dem Naturdenkmal Perda e Liana. Der Anstieg zum Aussichtspunkt bringt auch Carabiniere De Stefani ins Schwitzen. © wikimedia mag verblüffen, doch auch wenn die Leserin kaum etwas von dieser Sprache, die immerhin von mehr als einer Million Menschen gesprochen wird, versteht, entwickelt sie doch ein Verständnis für Land und Leute.
In einem Interview hat Locci einige Vorurteile zurechtgerückt:

Wer sagt, dass wir Sarden unbedingt mit einem Gewehr und "sa bertula" auftauchen müssen, einem grimmigen Blick und düsterer Musik im Hintergrund? Wir sind auch fröhlich, selbstironisch. Wir müssen im Gegenteil aus diesem Stockholm-Syndrom herauskommen, "Die Theologie des Wildschweins", Buchcover. © Eisele Verlagdas uns in einem Stereotyp einsperrt.

Mit Bravour und der Hilfe Gesuino Némus hat er das tatsächlich geschafft. Und weil Wikipedia in jeder Lebenslage hilft, kann ich dort auch die Übersetzung für „sa bertula“ finden: Gemeint sein könnte ein Packsattel, wie er Pferden und Eseln übergeworfen wird, um Brot und Wein und was vielleicht am Wegesrand liegt, zu transportieren.

Gesuino Némus: „Die Theologie des Wildschweins“, Sardinien-Krimi. Originaltitel: La teologia del cinghiale“, aus dem Italienischen von Sylvia Spatz. Eisele 2021. 288 S. € 16,50. Auch als E-Book erhältlich.