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Ali Smith: „Frühling“, Jahreszeiten-Tetralogie III

Autorin Ali Smith, fotografiert von Antonio Olmos für The Guardian.

Die schottische Autorin Ali Smith hält ihre Versprechen. Vier Bücher in vier Jahren wollte sie schreiben, je eines für eine Jahreszeit. In England ist der letzte Band der Tetralogie, „Sommer“, zeitgerecht im August 2020 erschienen. Ebenso zeitgerecht ist jetzt bei Luchterhand die exzellente Übersetzung von Silvia Morawetz des 3. Bandes, „Frühling“, bei Luchterhand erschienen. Als Smith mit dem „Herbst“ begonnen hat, konnte sie nicht wissen, was ihr und ihren Landsleuten bevorsteht: Brexit und die Pandemie waren noch weit unter dem Horizont. Smith liebt die Natur, schwärmt gern von Blütenpracht und lauen Lüften, auch die Jahreszeiten dienen ihr als Metapher. In „Frühling“ ist die Welt jedoch nicht bunt und duftend, sondern trüb und voll Gestank. Erst ganz am Ende gelingt es ihr, einen Hoffnungsstrahl zu erblicken.

Im englischen Verlag ist das saisonale Quartett von Ali Smith bereits vollständig erschienen. © medium.comVier unterschiedliche Personen ziehen sich durch die drei Teile des Romans, sie lernen einander erst am Ende kennen und, so divers sie auch sind, miteinander auszukommen. Die erste Begegnung ist mit dem Filmregisseur Richard Lease auf einem Bahnsteig irgendwo im Norden Schottlands. Seine Blütezeit ist vorbei, er wartet auf den nächsten Auftrag, den er nicht annehmen wird, eine unbekannte Stimme nennt ihn „Loser“. Vielleicht ist er das tatsächlich, denn er trauert um seine verehrte Freundin und Drehbuchautorin Patricia Hardiman, genannt Paddy, die vor wenigen Monaten verstorben ist. Jetzt fühlt er sich amputiert. Warum er ausgerechnet im Norden Schottlands gelandet ist, klärt sich im Finale des Romans auf, dann ist es Frühling geworden, und die rätselhafte Florence, ein Mädchen von 12 Jahren, wird auch da sein. Sie ist mit dem Zug gekommen, gemeinsam mit Brittany, die sie gesucht und quasi adoptiert hat, weil Florence (sie könnte auch Greta heißen) bereits eine Berühmtheit ist. Katherine Mansfield (1888–1923), fotografiert von Ottoline Morrell, etwa 1917. © gemeinfreiSie hat die Chefität eines Lagers für Migrant*innen überzeugt, endlich einmal die Klosetts säubern zu lassen, und auch in ein Bordell soll sie eingedrungen sein, um die gekauften Frauen zu befreien. Brittany ist DCO in diesem Lager für Migrant*innen: „Kein Gefängnis, sondern ein speziell gebautes Einwanderungszentrum mit Gefängnisdesign“, sagt sie über ihren Job. Die intensive Beschreibung der Zustände im „IRC für die HO“, wo Frauen, Männer und Kinder auf das Urteil – Asyl oder Abschiebung – warten, zieht sich durch den gesamten Roman. Die Abkürzungen sind eines der Spiele Smiths mit Wörtern, Begriffen und auch Namen, die in der Übersetzung meistens nicht nachzuvollziehen sind.
Apropos Spielerei, Paddy, die begnadete Drehbuchautorin, ist Mutter von Zwillingen, Dermot und Patrick, die eine verblüffende Ähnlichkeit mit Diedeldum und Diedeldei aus Lewis Carrolls Roman „Alice hinter den Spiegeln“ haben. Paddy ist es auch, die dem geschiedenen Richard vorschlägt, sich eine Tochter im Geiste zuzulegen, weil er seine reale Tochter, die bei der Mutter aufwächst, nicht treffen kann. Mit dieser imaginären Tochter geht er ins Museum und spricht auch gerne mit ihr, sie ist klug. Die Schülerin Florence ist auch klug, doch zusätzlich auch mutig und witzig.
Vor dem Bahnhof trifft Richard auf eine Frau in einem Kaffeewagen, die weder Kaffee noch Limonade anbietet, das Fenster hat sie nur geöffnet, um frische Luft einzuatmen. Die Schlacht von Culloden, festgehalten von David Morier. Chancenlos stehen die Schotten der Übermacht der britischen Rotröcke gegenüber. © gemeinfrei 1746 wikiSpäter werden Richard, Brit und, gegen die Tür gepresst, auch Florence im Van der Frau sitzen und nach Culloden fahren, wo 1746 die Schotten in einer für sie desaströsen Schlacht gegen die englischen Regierungstruppen ihre Unabhängigkeit verloren haben. Die Stuarts mussten erkennen, dass sie nie wieder die englische Krone aufsetzen würden. Diese letzte Schlacht auf britischem Boden ist als nationales Trauma im kulturellen Gedächtnis Schottlands verankert. Schließlich ist mit dem Gemetzel die alte Gesellschaftsordnung, das traditionelle Clan-System der Highlander, zerstört worden, ein Großteil der gälischen Kultur ist untergegangen. Rainer Maria Rilke (1875–1926), gemalt 1906 von Paula Modersohn Becker. © gemeinfreiNeben diesen vier Romanfiguren geistern, wie auch schon in „Herbst“ und „Winter“, Lebende und Tote aus Kunst und Literatur durch die Gedanken und Gespräche der Protagonist*innen. Richard erzählt von der neuseeländischen Schriftstellerin Katherine Mansfield (1888–1923) und dem österreichischen Lyriker Rainer Maria Rilke (1875–1926), die 1922 im selben Hotel in einem kleinen Schweizer Ort gewohnt haben sollen, einander jedoch niemals getroffen haben. Darüber will Richard einen Film drehen, doch hat ein gewisser Terp den Auftrag für das Drehbuch bekommen, der Richards Ansatz nicht versteht, das Konzept trivialisiert und ruiniert. Paddy war bereits todkrank, hat Richard nicht mehr helfen können, jetzt ist sie tot, er lehnt den Auftrag ab, steht auf dem Perron und wird mit der Frau im Van nach Culloden fahren, wo ihn der Frühling erwartet.
Tacita Dean im KUB: "The  Montafon Letter", 2017 Kreide, 9 Tafeln. Foto: Fredrik Nilsen Studio. Richard Lease sieht die insgesamt sieben Meter breiten 9 Tafeln mit seiner imaginären Tochter in London und hat angesichts dieses riesigen Berges mit der Lawine, die auf ihn "zubrüllt", nur ein  ehrfürchtiges „Fick mich“ zur Verfügung.  Courtesy of the artist, Glenstone Museum, Potomac, Maryland, Marian Goodman Gallery, New York / Paris, und Frith Street Gallery, London, © Tacita Dean Auch auf die Erwähnung ihres besonderen Lieblings, Charlie Chaplin, will Ali Smith zu keiner Jahreszeit verzichten. Die den Frühling regierende bildende Künstlerin ist die Engländerin Tacita Dean (*1965, drei Jahre jünger als Smith), eine der wichtigsten Künstlerinnen der Gegenwart. Dean arbeitet mit den unterschiedlichsten Medien, ist jedoch vor allem für ihre filmischen Arbeiten bekannt. 2018 hat ihr das Kunsthaus Bregenz (KUB) eine umfangreiche Ausstellung gewidmet; 2011 ist Deans erste Einzelausstellung in Österreich im MuMoK zu sehen gewesen. Für die Saison 2004/2005 der Wiener Staatsoper gestaltete Tacita Dean Tacita Deans Werk "Play as Cast" hat in der Saison 2004 /2005 im Rahmen der vom museum in progress konzipierten Ausstellungsreihe "Eiserner Vorhang" die Feuerschutzwand zwischen Bühne und Zuschauerraum der Wiener Staatsoper geschmückt. © museum in progressden Eisernen Vorhang mit dem Großbild „Play as Cast“. Es ist keine Überraschung, dass sich Ali Smith mit der Künstlerin angefreundet hat, wird doch ihr thematisches Werk als Beschäftigung „mit geschichtlichen Prozessen und dem Reichtum an Geschichte, die eine aus der Zeit gefallene Vergangenheit im Heute evozieren kann“, beschrieben. (MuMoK).Die Künstlerin Tacita Dean, fotografiert 2011 von Sabine Maierhofer. © wikipedia Im KUB klingt das knapper: „Geschichte, Erinnerung und Einfühlung, Naturgewalten und Menschenspuren sind die Themen im Werk Tacita Deans.“ Die Charakteristik passt ebenso auf des literarische Werk von Ali Smith.
Und da sind noch die Stimmen, die zu Beginn jedes der drei Abschnitte kundtun, was ihnen gefiele oder nicht gefiele, oder was sie von uns wollen. Gänsehaut macht die Stimme der sozialen Medien, die uns erklärt, wie sie aufrichtig die Daensammler um unser Wohlergehen besorft sind und wie nichts als unser Bestes wollen. Die erste Stimme ist sicher die des Volkes, die letzte gehört einem Biertischmacho, der alles hasst, vor allem Frauen und Migrant*innen, sein Schimpfen und Fluchen ist kaum erträglich. Auch den Protagonist*innen legt die Autorin alles in den Mund, was sie bewegt. Smith ist in diesem dritten Teil der Tetralogie polemischer, sogar wütender als davor, doch sie lässt uns nicht ohne ihren Witz und ihren Esprit im Frühlingsregen ertrinken. Ali Smith: "Frühling", Umschlagbild. © Luchterhand
„Monat des Opfers und der Verspieltheit“, nennt sie den April, in dem der Roman endet. „Wer an einem blühenden Busch oder Baum vorübergeht, kann es nicht überhören, das Surren des Motors, des neuen Lebens, an dem in seinem Inneren gewerkelt wird, das Wirken der Zeit.“ Kann der ganze Wahnsinn dieser Welt – Rassismus, Nationalismus, fake News und der Glaube daran, Flüchtlingselend, das Machstreben der Konzerne … – nach Brexit und in der Pandemie von der Zeit geheilt werden? Ali Smith macht klar, dass wir die Hoffnung nicht aufgeben dürfen.

Ali Smith: „Frühling“, Originaltitel „Spring“, aus dem Englischen von Silvia Morawetz, Luchterhand 2021. 320S. € 22,70. E-Book: € 17,99.