Benedict Wells: „Hard Land“, Roman
In seinem neuen Roman erzählt Benedict Wells von den 1980er Jahren. „Hard Land“ spielt in der fiktiven Kleinstadt Grady im Staat Missouri. Vier Jugendliche an der Schwelle zum Erwachsenendasein lernen das Leben. Ein Thema, mit dem sich der 35jährige Autor schon in früheren Romanen mit Bravour beschäftigt hat.
Nachforschungen, was in diesen neuen Roman wohl an Autobiografischem hineingeflossen ist, sind vergeblich und überflüssig. Benedict Wells ist 1984 geboren, nicht am Missouri, sondern an der Isar. Die persönlichen Schnipsel beziehen sich auf die Musik und das Kino der 1980er Jahre, Wells Protagonisten hören auch in seinen anderen Werken gerne Musik, die dem Autor selbst gefällt. Doch REM, U2, Billy Idol oder Bruce Springsteen sind für ihn keine Erinnerungen an eine goldene Jugendzeit, als die Popgrößen die Charts anführten, war Benedict noch ein Säugling. Doch vielleicht sind die vier Hauptpersonen – der Erzähler Sam und seine neue Clique, die tollkühne Kirstie Andretti, Tochter des Kinobesitzers, der schwarze Footballheld Hightower und der schwule Cameron – und auch die Nebenfiguren gerade deshalb so frisch und lebendig, so nahe der eigenen Welt, auch wenn diese weder mit den 1980er Jahren von mit Grady / Missouri etwas gemein hat. Doch die Gefühle, die diese Teenager erfüllen, beuteln, beglücken und beängstigen, tauchen immer wieder auf, selbst wenn man in die Jahre gekommen ist. Nur die Euphancholie bleibt diesem Zwischenreich der Pubertät vorbehalten: „Einerseits zerreißt’s dich vor Glück, gleichzeitig bis du schwermütig, weil du weißt, dass du was verlierst oder dieser Augenblick mal vorbei sein wird. Dass alles mal vorbei sein wird.“ (Kirstie Andretti in „Hard Land“, S 99). Benedict Wells hat die nötige Distanz, um sich nicht in Details zu verlieren, diese jedoch den Leser*innen nah genug zu bringen, damit sie das Puzzle aus Hochs und Tiefs, Einsamkeit und Freundschaft, Geheimnissen und Abenteuern, zum Bild eines Sommers zusammensetzen können, farbenprächtig und sinnlich, der letzte vor der Aufgabe, erwachsen zu sein und Verantwortung zu übernehmen.
Erzählt wird dieser ereignisreiche, verwirrende Sommer in Grady von Sam, der knapp vor dem 16. Geburtstag durchs Leben taumelt. Als Kind hat er an Angststörungen gelitten, jetzt ist er einsam, ein Außenseiter ohne Freunde. Der Vater ist wie nahezu alle in Grady arbeitslos, die ernährende Textilfabrik ist geschlossen. Die Mutter führt einen Buchladen, die ältere Schwester hat sich in die Großstadt abgesetzt und ihre Familie scheinbar vergessen. Vom zentralen Ereignis des Sommers berichtet Sam im ersten Satz des Romans: „In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb.“ Doch noch ist es nicht so weit, Sam muss die Sommerferien überstehen. Um sich zu beschäftigen und ein wenig Geld zu verdienen, wagt er es, sich auf die Suche Mr. Andrettis nach einer Aushilfe für das Metropolis, seinem Kino, zu melden. Hier lernt er die Clique kennen, in die er bald aufgenommen wird. Das Kino liegt bereits im Sterben, die Clique leitet es in Eigenregie, spielt nur an Wochenenden und bevorzugt alte Filme. Manchmal kommen gar keine Besucher, doch Sam ist nicht mehr allein.
Nach einer großartigen Nacht mit der Clique – „Ich fühlte mich so, wie ich mich schon mein ganzes Leben lang fühlen wollte: übermütig, und wach und mittendrin und unsterblich“ – muss er begreifen, dass die Mutter tot ist. Kirstie, Cameron und Hightower gehen in die Stadt, um zu studieren, Sam muss erst die High School beenden.
Sam übersteht die Zeit nach dem Begräbnis und träumt davon Kirstie, seine erste Liebe, wiederzusehen.
Erzählt wird in 49 Kapiteln, die süchtig auf mehr machen. Sam / Benedict lehnt sich damit an den einzigen Dichter von Grady – „nur für eine Sache gut: zum Weglaufen“ – William J. Morris. An ihn erinnert ein Schild am Stadtrand: „Entdecke die 49 Geheimnisse von Grady“, diese erwähnt Morries in einem Gedicht. Das Werk des über Grady hinaus unbekannten Lyrikers ist auch Unterrichtsthema, beschäftigt sich doch ein an Metaphern reicher Gedichtzyklus mit dem Titel „Hard Land“ eingehend mit der Entpuppung, dem Coming of Age, wie es auf Englisch heißt. Der Deutschlehrer, Inspector genannt, erklärt der Klasse, was unter dem Begriff zu verstehen sei:
Nun bei einem Blick in die Literaturgeschichte fällt auf, dass der klassische Held oft auf einer inneren oder äußeren Reise ist. Ausgelöst in der Regel durch ein einschneidendes Erlebnis wie Verlust oder Liebe, aber auch durch eine erste Konfrontation mit den großen menschlichen Fragen. Das alles zwingt den Helden, sich zu verändern, zu reifen und seinem alten Leben zu entwachsen. Kurz: Coming of Age.
Diese innere und äußere Reise hat schon Wolfram von Eschenbach den ohne Vater aufwachsenden Parzival machen lassen, Johann Wolfgang Goethe lässt Wilhelm Meisters Lehrjahre durchwandern, Robert Musil beobachtet die Verwirrungen des Zöglings Törleß und der amerikanische Schriftsteller J. D. Salinger hat mit „The Catcher in the Rye“ den 16jährigen Holden Caulfield weltweit bekannt gemacht, der in den Weihnachtsferien auf der Suche nach Liebe und Freundschaft drei Tage durch Manhattan irrt. Auch Holden erzählt selbst, doch sieht er die Zukunft keineswegs so rosig wie Sam in Grady. Holden und Sam haben allerdings außer dem Alter, von dem sie berichten, nichts gemeinsam, doch Sam aus dem Kaff Grady ist gut 15 Jahre jünger als Holden aus New York, der den 2. Weltkrieg als Kleinkind miterlebt hat. Sei’s drum, Vergleiche jeglicher Art sind ohnehin müßig und meist ungerecht, doch gerade Jugendlichen im Großstadtdschungel hat Holden Caulfield, „der Fänger im Roggen“, sicher auch heute noch etwas zu sagen.
Benedict Wells spricht mit Sam und Kirstie, Cameron und Hightower alle Generationen an, natürlich vor allem jene, die ihre Jugend in den 1980ern erlebt und Augen und Ohren nach Amerika – weniger nach Grady / Missouri als nach New York City – gerichtet haben. Auch wenn Wells einen nostalgisch-melancholisches Licht, wie die letzten warmen Strahlen der untergehenden Sonne, über Sams Erinnerungen legt, so überwiegt in der ganzen Euphancholie doch die Euphorie. Hochsommersonne zu Mittag, grell und grausam. Übrigens, um aus der sommerlichen Trance wieder zu erwachen, auch Rowling hat mit „Harry Potter“ den guten alten Entwicklungsroman Kids und Teens und Twens als Coming of Age-Fantasy lesbar gemacht.
Benedict Wells: „Hard Land“, Diogenes 2021. 352 S. € 24,70. Hörbuch: € 27,00.
Im Rahmen der „Hard Land Club Tour – Herbst 2021“ liest Benedict Wells aus seinem neuen Roman und wird dabei musikalisch von dem befreundeten Musiker Jacob Brass begleitet. Geplanter Auftritt in Wien: 11. November 2021, Simm City. www.hard-land.de
J. D. Salinger: „Der Fänger im Roggen”, neu übersetzt von Eike Schönfeld, 7. Auflage, Kiepenheuer & Witsch 2003. 304 S. € 15,50.
Rowohlt Taschenbuch 2004, neu übersetzt, 21. Auflage. € 10,30.