Robert Seethaler: „Der letzte Satz“, Roman
Robert Seethaler sinniert über den Tod. Nach den Romanen „Ein ganzes Leben“ und „Das Feld“, die von fiktiven Figuren erzählen, ist diesmal eine reale Person, der Komponist und ehemalige Direktor der Wiener Hofoper Gustav Mahler, das Zentrum des Gedankenkreises. Der kranke Mann sitzt auf der Rückreise von New York an Deck des Dampfschiffs und erinnert sich, während er fühlt, dass er bald sterben wird. Die Ozeanüberquerung war Mahlers letzte Reise.
Wenn einer den nahenden Tod spürt, dann lässt er vor dem innerem Aug sein Leben passieren. So heißt es gemeinhin. Also hält sich auch der Autor an das Klischee und lässt Mahler zurückblicken und über sein Leben räsonieren. Weil so ein Dampfschiff eine gute Woche benötigt, um den Ozean zu überqueren, hat er viel Zeit. In Zeitlupe rollt der Lebenszug im Kreis von Station zu Station.
Mahler ist überarbeitet und krank, sein Herz wird nicht mehr lange schlagen, knapp drei Monate bleiben ihm noch. Was er da oben „auf dem eigens für ihn abgetrennten Sonnendeck“ gedacht hat, ist nicht überliefert, der Autor imaginiert es und lässt Mahler an Stationen seines Lebens als Ehemann, Operndirektor in Wien und als Komponist haltmachen. Für Musikliebhaber*innen, die sich auch für Künstlerbiografien interessieren, gibt es keine Überraschungen. Die Ehe mit der um 19 Jahre jüngeren Alma Schindler, der Tod der Tochter Marie, die Komponierhäuschen am Wörthersee, am Attersee und zuletzt in Toblach in Südtirol. Immer wieder kehren Mahlers Gedanken zu Alma, die Liebe seines Lebens, zurück. Er hat Angst, sie zu verlieren. Ihre Affäre mit dem jungen Architekten Walter Gropius hat ihm schwer zugesetzt. Sigmund Freud sollte ihm helfen. Mahler bekommt im holländischen Leiden eine Kurzanalyse. Geholfen hat sie nicht. Doch noch ist Alma da, zwar nicht neben ihm, doch unten im Frühstücksraum der Amerika mit der 7jährigen Tochter Anna. Stellt sich der Autor vor.
Es ist Februar und Mahler friert, der Schiffsjunge, sein persönlicher Adjutant, wickelt ihn in Decken, bietet ihm Tee und Kekse an. Die Kekse lehnt der müde Mann ab.
Damit der Roman so richtig tragisch endet, mit dem Attribut „berührend“ gelobt wird, muss Mahler aufstehen, sich über die Reling beugen und zusammenbrechen. Er wird weggetragen
wie ein schlafendes Kind, während weit draußen das Wasser zu brodeln begann und sich nur einen Augenblick darauf ein Schwarm Fische erhob, silbern und flirrend so gewaltig, dass er das ganze Meer in seinen Schatten zu legen schien.
Na ja, das erscheint mir ein wenig gar zu schwülstig
Dieser Gustav Mahler ist eine Kunstfigur, von Robert Seethaler zusammengesetzt aus realen Biografiestücken des Komponisten Gustav Mahler. Seethaler, auf Mahlers Träumereien konzentriert, zeigt einen Geist, dieser Maler ist schon tot, bevor er in Wien ankommt. Die überkandidelte Metaphysik, der ganze Weltschmerz und Lebenshunger sind nur Gerede, Wortgeklingel. Ergötzen kann ich mich bestenfalls an Seethalers kristallklarer Sprache, die auch seine anderen Romane auszeichnet, doch das Mahler-Konstrukt interessiert mich wenig, zumal es auch der Autor ist, der da denkt und interpretiert.
Warum muss es auch ein Komponist sein, den Seethaler in den Tod begleitet? Thomas Mann war da schlauer, in seiner Novelle „Der Tod in Venedig“ ist es ein Dichter namens Gustav von Aschenbach, der eine Art Liebestod stirbt. Die Assoziation zu Gustav Mahler ist nicht abzuweisen. Immerhin hat Mann die Geschichte von letzter Liebe und Tod 1911, im Jahr von Mahlers Tod geschrieben. Doch Mann muss sich an keine vorhandene Biografie halten und auch nicht mit der Musik beschäftigen, die, wie Seethaler sagt, nicht in Worte zu fassen ist. Kann aber sein, dass Seethaler wenigstens an Mahlers Musik gedacht hat, als er den Titel für sein schmales Buch gewählt hat.
„Der letzte Satz“ könnte sich auf Mahlers unvollendete 9. Symphonie beziehen, für deren letzten Satz Mahler vorschreibt, „mit innigster Empfindung“ und „ersterbend“ zu spielen.
Wie bekannt, ist Mahler noch nicht auf dem Schiff gestorben, sondern im Mais 1911 in Wien. So hat auch die Erzählung einen Nachsatz. Der den Schiffsjungen noch einmal ins Licht rückt. Mahler ist schon tot. Monate später sieht der Junge, der nicht mehr auf dem Meer fahren will, sondern an Land, in den Docks arbeitet, das Bild des Komponisten auf dem Titelblatt einer alten Zeitung. Er lässt sich den Nachruf übersetzen. Jetzt weiß er endlich, wen er da bedient hat und welche Musik der Mann, der fast ein Freund geworden war, geschaffen hat. Jedenfalls keine, wie sie in den Hafenkneipen zu hören ist.
Die Musik des toten Mannes war etwas anderes. Er stellte sie sich als etwas Großes, Unberechenbares vor. Es ist ein Jammer, dachte er, dass sie nun für immer verloren ist.
Der Junge kann nicht wissen, dass Gustav Mahlers Musik hundert Jahre und mehr überdauern wird. Dieses letzte Kapitel ist das beste, poetisch, aber nicht schwülstig. Doch ein Erfolgsautor, und ein solcher ist Robert Seethaler, darf auch scheitern. Man schreibt das in den Sand und nimmt sich noch einmal „Das Feld“ vor. In diesem Roman, erschienen 2019 bei Hanser, erzählen die Toten, und die brauchen kein Pathos und keinen Schwulst, sie berichten nüchtern und ruhig über ihr irdisches Leben. Der Anspruch, den sich Seethaler mit dem jüngsten Buch stellt, war wohl etwas zu hoch.
Robert Seethaler. „Der letzte Satz“, Roman, Hanser Berlin, 2020. 2. Auflage. 128 S. € 19,60. E-Book: € 14,99.