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Hideo Yokoyama: „50“, Polizeiroman

Hideo Yokoyama. © Bungeishunju Ltd

Japanische Kriminalromane sind anders, und Hideo Yokoyamas Bücher sind noch einmal ganz anders. Mit seinem Roman „64“ hat er weltweit Millionen Leser*innen begeistert, indem er minutiös über die Polizeiarbeit erzählt. Unter dem Titel „50“ ist jetzt sein erster Kriminalroman auf Deutsch erschienen. Und wieder geht es um die Arbeit der Polizei, um Hierarchien und Konkurrenz, um Vertuschung und Korruption, um Manipulation und den Kampf zwischen Polizei und Presse. Mehr ein Sittenbild der japanischen Gesellschaft als ein Kriminalroman und dennoch überaus spannend.

Sowohl den Journalisten wie den Kriminalbeamten geht es um ihre Karriere, davon hängt nicht nur ihre Pension ab, sondern auch ihr Ansehen. Aber keiner ist frei, jeder steht gebückt auf einer Stufenleiter, viele sind über ihm, die Spitze sitzt in Tokyo. Der Roman spielt abseits davon in der Präfektur W., und wie später in „64“ (Japanisch 2012/ Deutsch 2018), ist das Verbrechen weniger wichtig als die Rivalitäten zwischen den Polizeiabteilungen und auch zwischen den Zeitungen und einzelnen Journalisten. Tokyo, von wo aus die Zentrale der Polizei alles überwacht. Im Hintergrund der Berg Fuji. ©  cloudinary.comDie Regeln des Umgangs mit den beiden Gruppen sind völlig anders als in Europa, fest gefahrene Traditionen, sehr unangenehm für beide Seiten.
Der Titel „50“ bezieht sich auf das Lebensalter des Protagonisten und auch der anderen wichtigen Figuren, wer mit 50 nichts erreicht hat, kann sich gleich ins Grab legen. „64“ war das Aktenzeichen eines alten Falles, den die Hauptfigur, der Pressechef in der fiktiven Präfektur D, neu aufrollt. Zugleich ist 64 die Zahl der Regierungsjahre von Kaiser Hirohito, der 1989 verstorben ist und sein Sohn Akihito der neue Kaiser geworden ist. Genau um diese Zeit hat das Verbrechen stattgefunden, das unter dem Aktenzeichen „64“ knapp vor der Verjährung nach 15 Jahren noch einmal aufgerollt werden soll. In „50“, Yokoyamas Debüt als Autor, erschienen 2003, doch erst auf Grund des Erfolges von „64“ übersetzt, geht es also um den runden Geburtstag, die Protagonisten sind alle bald 50 Jahre alt, auch der Täter, ein beliebter Lehrer in der Polizeischule, der seine Frau auf Verlangen erwürgt und sich selbst gestellt hat. Soweit so klar, doch stellt sich heraus, dass sich Sojiro Kaji erst zwei Tage nach der Tat auf der Wache gemeldet hat. Kabukicho, dasRotlichviertel im Bezirk Sinjyuku von Tokyo. Ene Schande für die gesame Polizei, falls der geständige Hauptkommisar tatsächlich dort war. © japan-experince.deDavon darf die Presse nichts erfahren, denn es ist aus ihm nicht herauszupressen, was er während dieser Tage gemacht hat. Eine Blamage für die Abteilung Gewaltverbrechen. Bald jedoch sickert durch, dass Kaji im Rotlichtbezirk von Tokyo, dem Kabuki-Viertel gewesen ist. Ein Polizist auf Abwegen? Kein Thema für die Öffentlichkeit, doch ein Appetithappen für die Schreiberlinge.
Sadist ist Yokoyama, der selbst Investigativ-Journalist war, keiner, denn die Leserinnen dürfen erfahren, wo Kaji sich tatsächlich herumgetrieben hat. Der bald wegen seines Übereifers vom geheimnisvollen Fall abgezogene Ermittler, Kazumasa Shiki, lässt nicht locker und sieht den Schlüssel in einer Art Suizid-Drohung Kajis. Kaji hat eine von ihm geschriebene Kalligraphie – ein Zitat aus einem 800 Jahre alten berühmten Tanztheater-Stück: „Der Mensch lebt 50 Jahre …“ – hinterlassen, Shiki meint, damit den Schlüssel für Kajis Verhalten und das beharrliche Schweigen gefunden zu haben.
Shodō, die Kunst der Kalligrafie. Im Bild ein Kunstwerk von Ikkyu Soujun. © shodocalligraphy.comYokoyama nimmt als Erzähler unterschiedliche Perspektiven ein und richtet den Fokus, während er die die Geschichte des Täters, und der Intrigen im Polizeiapparat vorantreibt, in sechs Kapiteln jeweils auf anderen Beteiligten. Neben Ermittler Shiki, kommt der zuständige Staatsanwalt, Mario Sase, der ehrgeizige Journalist Yōhei Nakao, der Anwalt Manabu Uemura, der Richter Keigo Fjibayashi und schließlich der Gefängniswärter Seiji Koga, der den in Untersuchungshaft sitzenden nun degradierten Polizeihauptmeister bewacht.
Die Namen aller Figuren auseinanderzuhalten und sich zu merken, kommt einer akrobatischen Übung gleich, völlig ungewohnt für europäische Gehirne. Mehr als 60 Personen sind namentlich samt ihrer Funktion auf einer Liste vor dem ersten Kapitel angeführt. Ein Glück, so kann immer wieder nachgelesen werden, wer denn das wieder ist. So kann auch herausgefunden werden, dass In der Übersetzung die Vornamen vor den Nachnamen gesetzt sind, also nach europäisch-amerikanischem Brauch. i"50", Cover der deutschen Ausgabe. © Atrium Verlagn asiatischen Kulturen wird der Familienname vor dem Vornamen genannt, für fremde Länder wird die Reihenfolge oft umgekehrt, daher weiß man schon gar nicht, wie die Personen anzureden sind. Die die streng eingehaltenen Regeln der Höflichkeit und der hierarchischen Ordnung sprechen dagegen. Auch einen Anhang mit spezifisch japanischen Begriffen schenken uns die Übersetzerin Nora Bartel, und der Verlag.
Trotz aller Detailtreue, möglicherweise auch gerade derentwegen, ist die Lektüre  aufregend und auch fesselnd, weil Yokoyamas Personen lebendige Menschen mit Hoffnungen und Ängsten, Erfolgen und Misserfolgen sind. Der tiefe Blick in eine fremde Welt gibt zusätzliche Anregungen. Etwa, dass auch in Japan mehr Kaffee getrunken wird als Tee und dass auf den Schreibtischen der Beamten mitunter Familienfotos aber keine selbst gefalteten Origami-Figuren stehen.

Hideo Yokoyama:
„50“, Kriminalroman, aus dem Japanische von Nora Bartels, Atrium, 2020. 368 S- € 22.70. E-Book (EPUB): € 17,99
„64“, aus dem Englischen von Sabine Roth und Nikolaus Stingl, Atrium, 2019. 768 S. € 14,40.