Ali Smith: „Herbst“, Beginn einer Tetralogie
Im Jahr 2016, als sich 51 Prozent der Briten für einen Austritt des Königreichs aus der EU ausgesprochen hat, musste Ali Smith, gebürtige Schottin, in die Tasten greifen, um ihren Schock zu überwinden und darüber nachzudenken, „was kulturell passiert, wenn etwas auf einer Lüge aufbaut.“ In ihrer eigenen assoziativen, auch verspielten, sanft fließenden Sprache hat Smith mit „Herbst“ einen so schönen Roman verfasst, dass man lesend viel zu rasch am Ende angekommen ist.
Doch „Herbst“ ist erst der Anfang, es folgen „Winter“ und „Spring“, die beiden Bände sind auf Englisch bereits erschienen und werden hoffentlich bald übersetzt. „Summer“ erscheint 2020. Dass die renommierte Autorin ihre Jahreszeiten-Tetralogie mit dem Herbst beginnt, lässt ahnen, dass im Frühling alles, oder wenigstens vieles, besser wird. Doch zuerst müssen wir durch den Winter, was lesend, vor allem Ali Smith lesend, so oder so angenehm und erwärmend ist.
Während Ali Smith über die Zeit nachdenkt, ist diese aufgehoben, Vergangenheit und Gegenwart, Leben und Tod fließen einander, haben keine Grenzen mehr, wie Smith ohnehin gegen jegliche Grenzziehung anschreibt. Zwei Personen tragen den essayistischen Roman: Elisabeth, mit wackelnder Anstellung an der Universität und Daniel, ein Nachbar und Freund aus Elisabeths Kindertagen, der im Sterben liegt. Er träumt sich aus Zeit und Raum, sie sitzt an seinem Bett und liest ihm vor. „Was liest du?“, war eine Frage, die ihr Daniel, als sie acht oder zehn oder 12 war, zur Begrüßung gern gestellt hat. Wobei ihn der Titel eines Buches nicht so sehr interessiert hat wie Elisabeths Gedankenwelt.
Doch auch Erinnerungen an Englands einzige Pop-Art-Künstlerin Pauline Boty (1938–1966) und Motive aus Shakespeares „Der Sturm“ fließen ein. Wie in allen Werken Smiths spielt die Natur eine große, wunderbar beschriebene Rolle und auch ihr Wortwitz, vor allem von jungen Mädchen geübt, aktuell also von der kleinen Elisabeth, kommt zum Amüsement der Leserin und der Schwerstarbeit der Übersetzerin Silvia Morawetz zum Tragen. Bei aller Wut über den Brexit behält Smith ihren Humor und die Aktualität der 2016 im Original erschienenen Herbst-Gedanken, ist für deutschsprachige Leserinnen nicht mehr wichtig.
Der Roman ist keine politische Philippika, die Autorin berichtet auch weniger Tatsachen, sie lässt Gefühle sichtbar und greifbar werden.
Im ganzen Land fanden die Leute, es sei das Falsche. Im ganzen Land fanden die Leute, es sei das Richtige. Im ganzen Land fanden die Leute, sie hätten eigentlich gewonnen. Im ganzen Land fanden die Leute, sie hätten eigentlich verloren. (Zitat aus "Herbst")
Wenn Smith ihre Gedanken schweifen lässt, so kann sie alles zu einer Einheit bringen, Shakespeare passt genauso in die Geschichte von Daniel und Elisabeth wie Pauline Boty. Ali Smith fühlt den sozialen und politischen Puls in Großbritannien, doch das ist nicht der Grund, warum ich ihr mit heraushängender Zunge von Buch zu Buch folge wie eine verliebte Hündin. Wie sie schreibt, das Leben beleuchtet, mich hineinzieht in ihre Welt, aus der ich gar nicht mehr auftauchen möchte, das ist unnachahmlich. Ein Grund, sich zwar nicht auf den Winter, doch auf „Winter“, den zweiten Teil des Jahreszeiten-Quartetts, zu freuen.
Ali Smith: „Herbst“, Roman, aus dem Englischen von Silvia Morawetz, Luchterhand, 2019. 272 S. € 22,70. Auch als e-Book erhältlich.