Skip to main content

Tommy Orange: „Dort Dort“, Roman

Autor Tommy Orange. © Penguin Randomhouse

Der junge amerikanische Autor Tommy Orange, geboren 1982, ist Abkömmling der Ureinwohner Amerikas, ein Mitglied der Cheyenne und Arapaho Tribes (Stämme), aus der Entfernung Indianer genannt. Als Nachkomme der Ureinwohner hat er seinen ersten Roman geschrieben; über Identitätsbewusstsein und Tradition, über die Suche nach den Wurzeln und die Chancen, die die junge Generation der indigenen Bevölkerung in einer Heimat hat, die ihnen schon lange nicht mehr gehört. Ein bemerkenswertes Buch, schön geschrieben und von Hannes Meyer ebenso schön aus dem Englischen übertragen.

Powwow in Omaha: Einmarsch der Teilnehmer. © wikipediaBereits im Prolog macht der Autor klar, wie stark in Europa das Bild der amerikanischen Ureinwohner von Klischees geprägt ist, angefangen mit Karl May und sicher nicht beendet mit Kevin Costner. Dagegen setzt Orange lebendige Porträts zu einem indianisches Selfie zusammen, das als Selbstdefinition all die in europäischen Gehirnen kreisenden von Außenseitern gefertigten Bilder auslöscht. Spannend, politisch und bestens übertragen von Hannes Meyer. Die erste Lektion übermalt das Bild vom versoffenen, am Glücksspielautomaten hängenden alten Indianer im Reservat. „Urban Indians“ nennt Orange das Personal seines Romans, was mit „Stadtindianer“ nicht zu übersetzen ist, denn dieser Begriff, in den 1970er Jahren in Italien von einer linksradikalen Bewegung erfunden, hat längst mehrere Bedeutungen erlangt. Mit den Ureinwohnern Amerikas wird er kaum je assoziiert. Powwow-Tänzerin im Kinderprogramm. © wikipedia

Seit mehr als 12.000 Jahren besiedeln indianische Stämme den Doppelkontinent. Dezimiert und in Ghettos, euphemistisch und demütigend Reservat genannt, umgesiedelt, haben sie den Glauben an sich selbst verloren. Die jüngste Generation hat zwar die Umzäunung verlassen, ist in die Städte gezogen, doch die Probleme hat sie gleich mitgenommen, von Arbeitslosigkeit bis Alkoholismus und Kriminalität. Orange beschreibt eine entwurzelte, von ihrer Geschichte durch falsche Berichterstattung abgeschnittene Bevölkerung, die verzweifelt auf der Suche nach ihrer Tradition und Kultur ist.

Zwölf Einzelschicksale stehen für alle Tribes und Generationen. Wie der Autor diese zwölf Personen in einem großen Netzwerk zeigt und sie im Finale beim großen Powwow, dem festlichen Treffen aller Tribes, alle zusammenführt, die Großeltern und die Enkelkinder, die Geschwister und die Liebespaare, zeigt ihn als begabten Autor, der es versteht, sein Anliegen in Literatur zu verwandeln und nicht nur seine Landsleute, sondern alle Leserinnen zu fesseln.

Den Titel hat sich Tommy Orange von Gertrude Stein geliehen, die in „Everybody’s Autobiography“ ihren Besuch in Oakland, "There" Skulptur von Joe Sciarrillo. Eine ironische Erinnerung an Gertrude Steins Dictum.  © huffpos.tcomder Stadt, in die sie mit ihrer Familie gezogen ist, als sie sechs war, beschreibt:

...what was the use of my having come from Oakland it was not natural to have come from there yes write about it if I like or any- thing if I like but not there, there is no there there.

Kein hier und kein dort findet auch die Generation der urbanisierten Arapaho, Cheeroke, Comanche oder Dakota. Der Begriff “Indianer“ ist den Betroffenen nicht geläufig; sie sehen sich nicht als große Einheit, eher bestimmt der Tribe ihre gefühlte oder gesuchte Identität. Wie sehr die Urban Indians von der Überlieferung getrennt sind, spürt auch der 14jährige Orvil, der unbedingt beim großen Powwow tanzen möchte. Seine Großmutter Opal, wie ihre Halbschwester Jacquie, eine der zentralen Personen im Roman, hat noch ein altes Kostüm im Schrank hängen, doch niemand erklärt Orvil, was er tun muss. Also übt er vor dem Spiegel nach Videos von Youtube.  Tommy Orange: "Dort Dort", Cover / Schutzumschlag. © Hanser Berlin.

Bei großen Stammestreffen sieht er dann keine Indianer, sondern lediglich „als Indianer verkleidete Indianer“ und selbst fühlt er sich als Möchtegern-Indianer. Viel mehr will ich nicht erzählen, denn eine der Qualitäten des Romans ist, dass er sich erst allmählich verdichtet und am Ende explodiert, und dennoch von Anfang an die Leserin gefangen nimmt. Ein großer Wurf und ein deutliches Lebenszeichen der indigenen Bevölkerung von Nordamerika.

Tommy Orange: „Dort Dort“, übersetzt aus dem Englischen von Hannes Meyer, Hanser Berlin. 288 S. € 22,70.