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Simone Lappert: „Der Sprung“, Roman

Simone Lappert, *1985. © Ayse Yavas

Eine junge Frau steht auf dem Dach und niemand weiß, was sie vorhat. Die Polizei wird gerufen, die Gaffer sammeln sich, warten, dass sie springt. Doch es passiert nichts, sie kommt nicht herunter, steigt nicht durch die Dachluke zurück, springt auch nicht. Was geht in ihr vor? „Der Sprung“ nennt die Schweizer Autorin Simone Lappert ihren Roman, der von den ganz gewöhnlichen Menschen erzählt, von Menschen, denen wir täglich begegnen, sie aber nicht beachten. Ihre Lebenslinien kreuzen sich auf dem Schauplatz, in dessen Mittelpunkt die Frau in gefährlicher Position steht.

Endlich erkennt sie jemand, es ist Manu, die die Pflanzen mehr liebt als die Menschen, die sich Am Stadtrand ihren eigenen Garten angelegt hat. Fahrradboten, wie der verliebte Finn einer ist, hat es schon um 1900 gebegeben. © free license / Wikipedia (Werbeplakat von Carl Moos um 1908)Jetzt steht sie auf dem Dach da oben und rührt sich nicht. Der Fahrradbote Finn hat sich in sie verliebt, dass sie vom Dach springen will, wie er glaubt, wirft ihn aus der Bahn. Er vergisst seinen Auftrag, lässt das Fahrrad samt der Box mit dem lebensrettenden Inhalt fallen und kämpft sich durch die immer größer werdende Menge an Schaulustigen. Hat er sie gekränkt, will sie seinetwegen springen? Finn kann es nicht glauben, sie haben einander doch vertraut, Manu schien ihn doch zu mögen, sie ist vielleicht etwas sonderbar, doch sie hat ihm doch gezeigt, dass sie gern mit ihm beisammen war. Von seinem Glück, dass der Kollege das umgestürzte Fahrrad samt der Organspende rechtzeitig findet, weiß er noch nichts.

Finn ist nicht der Einzige, den die Erzählerin aus der wachsenden Menge herauspickt. Gleich neben dem in der Mittagssonne bald zum Jahrmarkt gewandelten Platz vor dem Haus ist ein Greißlerladen, der neben den Supermärkten nur noch mühsam sein Leben fristet. Doch an diesem Tag passiert ein Wunder. Durst und Hunger treiben die Gaffer*innen, Erwachsene und Schulkinder, Teenagerinnen und Liebespaare zu Theres, mehr oder weniger geduldig stehen sie in der Schlange, bald sind die Regale leer und Theres erfährt, dass ihre Sammlung von Figürchen aus den Überraschungseiern so wertvoll sind wie ein Lottogewinn. Alte Greißlerei. So könnte es bei Theres und Werner in "Werner's Grocery" aussehen. © Wikipedi / StadtmuseumTraiskirchen„Werner’s Grocery“ wird wieder aufblühen, weiß ihr gar nicht mehr missmutiger Mann Werner, der das Leuchtschild über dem Geschäft auf der Hochzeitsreise in Amerika bestellt hat. Da ist auch die grantige Edna, die immer nur nörgelt und „die Verrückte“ auf dem Dach am liebsten herunterschießen würde. Der aufgeblähte Einsatzleiter, der nichts auf die Reihe bringt und deshalb immer lauter brüllt, während der Polizist Felix Mitleid mit Manu hat und mit ihr ins Gespräch kommen will, um zu erfahren, warum sie da oben steht. Das will auch Finn, doch der sich mächtig fühlende Einsatzleiter verbietet es ihm. Immer mehr Menschen, deren Leben durch das Ereignis auf dem Dach an einen Wendepunkt, vielleicht auch an einem Endpunkt anlangt. Die einen gewinnen eine neue Freiheit, die anderen eine Erkenntnis oder gar das Glück.

Simone Lappert beobachtet und berichtet, sie wertet nicht, hebt keine der Personen hervor, sondern fühlt sich in ihre Gedankenwelt ein und haucht ihnen Leben ein. Die Leserin aber ist zwar anteilnehmend, aber auch ein Teil der Menge, die das Smartphone in die Höhe reckt oder sensationsgierig „Spring endlich“ kreischt.

Die  Feuerwehr rückt mit dem Sprungpolster an.  © Thomas LunitzDieses menschelnde Panorama einer Kleinstadt ist ein belebendes Bild, dessen Betrachtung fröhlich macht und auch traurig, die Sinne belebt und zum Nachdenken anregt. Simone Lappert ist eine großartige Beobachterin und gute Erzählerin, die mit Alltagsgeschichten ihre Leserinnen bei der Stange hält, ohne die von ihr ins Spiel gebrachten Personen zu desavouieren oder lächerlich zu machen. Simone Lappert ist mit ihrem zweiten Roman – Simone Lappert: "Der Srpung" / Buchcover. © Diogenes Verlag für den Debütroman, „Wurfschatten“, ist sie 2014 als Newcomerin mit dem Literaturpreis Wartholz (vergeben im Niederösterreichischen Schloss Wartholz) ausgezeichnet worden – ein ernsthafter Unterhaltungsroman gelungen, den sanfter Humor vor dem Abrutschen in Pathos und Tiefenpsychologie aus der Küchenecke bewahrt. Von den Problemen der großen Welt höre ich täglich in den Nachrichten, die Ängste und Nöte, die Träume und Illusionen, das Lachen und Weinen, Leben und Sterben der Menschen in der kleinen Welt rund um mich, ist ebenso wichtig und hat mehr mit mir zu tun als der Nahostkonflikt. An diesem kann ich nichts ändern, für Manu auf dem Dach kann ich jedoch notfalls den Sprungpolster aufblasen.

Simone Lappert: „Der Sprung“, Diogenes 2019, 336 S. € 22,70.