Anna Enquist: „Denn es will Abend werden“, Roman
Auf einem Hausboot in Amsterdam geben sich vier Menschen der Musik hin. Sie spielen Quartett. Ein Kind ist auch auf dem Boot, als ein Exsträfling die Gruppe überfällt, sie mit dem Messer bedroht und verletzt. Die Polizei trifft ein, der Verbrecher wird verhaftet, scheinbar ist alles wieder in Ordnung. In ihrem Roman „Denn es will Abend werden“, erzählt Anna Enquist, dass nichts mehr in Ordnung ist. Die Frauen und Männer sind schwer traumatisiert, und jede(r) versucht, alleine damit zurechtzukommen.
Der Überfall, bei dem auch das Kind bedroht wird und das Boot schließlich explodiert, ist die Vorgeschichte, die Enquist in ihrem Roman „Streichquartett“ (Luchterhand, 2014) erzählt. Man muss ihn nicht gelesen haben, um „Denn es will Abend werden“ zu verstehen. Sie erzählt primär, wie die Ärztin und Cellistin im Freundesquartett, Carolien, die bei dem Angriff den kleinen Finger der rechten Hand, mit der sie den Bogen hält, verloren hat, versucht, aus ihrer Erstarrung zu erwachen und die posttraumatische Störung zu bewältigen. Ihr Ehemann, Jochem, ein Geigenbauer und Bratschist im Quartett, reagiert mit Angst, er zieht aus dem gemeinsamen Haus aus, mietet ein Atelier, stattet es als Hochsicherheitsraum aus. Bald schläft er auch darin. Dennoch verbarrikadiert er mit Schlössern und einer Alarmanlage auch das gemeinsame Wohnhaus. Carolien fühlt sich eingesperrt, obwohl sie ohnehin kaum nach draußen geht. Das Ehepaar kann kaum noch miteinander kommunizieren. Dass er sie dauernd mahnt, doch das Cello wieder zu spielen, belästigt sie, den fehlenden Finger fühlt sie als schwere Behinderung.
Heleen, die zweite Geige, hat ihr Leben geändert, den medizinischen Beruf aufgegeben, die langen schwarzen Haare in hennarote Stacheln verwandelt. Sie hat ihr Leben umgekrempelt, ist „medizinische Managerin“ in einem Fitnesscenter. Als Carolien sie zufällig trifft, plaudert sie unentwegt über die neuen Methoden, das Leben zu bewältigen. Wie es Carolien geht, fragt sie nicht. Die erste Geige im Hausmusik-Quartett spielt Hugo. Er ist der Vater der kleinen Laura, die mit auf dem Hausboot war und ebenfalls traumatisiert ist. Sie will ihren Vater und alle anderen, die den Überfall überlebt haben, nicht sehen. Hugo reist als Musikmanager nach China, will dort Geigen verteilen und Konzerte mit westlicher Musik geben. Aus einer Laune heraus und weil sie spürt, dass sie sich nur selbst au ihrer Lethargie befreien kann, reist Carolien ihm nach. Der Plan funktioniert, sie beginnt wieder zu leben, sogar zu lachen. Dann überfällt sie auch die Liebe. Der Mann bringt ihr die Freude am Sex bei und flieht dann, schreibt nur einen weinerlichen Brief. Für Carolien ein Schock mit positiver Wirkung. Die Gerichtsverhandlung, bei der alle vier als Zeugen aussagen müssen, gibt Anlass, nach Amsterdam zurückzukehren. Nach der Verhandlung schafft es der umtriebige erste Geiger, sie alle zum Italiener zu dirigieren, dorthin, wo sie „früher immer waren.“ Die vier sitzen wie immer: Erste Geige, zweite Geige, gegenüber Bratsche und Cello. Alles wird gut.
Anna Enquist weiß, wovon sie schreibt, wenn sie über Gefühle, über Einsamkeit und Depression, Verlust und Angst, Neurosen und Ängste schreibt. Sie ist Psychotherapeutin. Und sie ist auch ausgebildete Konzertpianistin und weiß, dass Musik über einen schweren Verlust hinweghelfen und Trauer mildern kann. Und sie weiß auch, wie man mit Verlust umgeht, wie man aus dem Tief wieder herausfindet. Davon schreibt sie in all ihren Büchern, einfühlsam, mit leisem Humor, in einer klaren Sprache, in der sie auch das Unsagbare ausdrücken kann. Jeder Roman von Anna Enquist, auch wenn Melancholie als grauer Schleier darüber liegt, ist ein Gewinn.
Der Titel übrigens entstammt einem bekannten Lied, angeblich durch eine Bibelstelle inspiriert: „bleib bei uns, denn es will Abend werden hochgelobter Gottessohn. Ach bleib bei uns, Herr Jesu Christ. Es hat die Dunkelheit an vielen Orten überhandgenommen…“ Auch Johann Sebastian Bach hat den Text vertont. Die Kirchenkantate BW 6 wird am 2. Osterfesttag gesungen. Einen Originaltext (Luk 24,29) „Bleib bei uns, denn es will Abend werden und der Tag hat sich geneiget“ hat Josef Rheinberger 1855 mit 15 Jahren als Chorwerk vertont. In protestantischen Familien und auch Kirchen wird das „Abendlied“ gern gesungen.
Anna Enquist. „Denn es will Abend werden“, „Want de avond“ aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers, Luchterhand, 2019. 285 S. € 22,70.