Kanae Minato: „Schuldig“, Krimi ohne Kommissar
Fünf junge Burschen wollen eine Party feiern. Einer kommt zu spät, und der ihn mit dem Auto abholen soll, hat einen tödlichen Unfall. Jahre später muss die Frage beantwortet werden, ob der Unfall ein bedauernswerter Zufall, Selbstmord oder gar ein Mord war. Ein Krimi mit dem Zweifel als Kommissar und dem Gewissen als Richter.
„Kazuhisa Fukase ist ein Mörder!“ Ein einziger Satz steht in dem anonymen Brief, den Mihoko ihrem Freund Fukase in die Hand drückt: „Lies!“. Mihoko besteht darauf, dass Fukase sein Gewissen erforscht und ihr sein gesamtes Leben samt allen dunklen Stellen erzählt. Ist es die Wahrheit, die geschrieben steht? Ist ihr Freund wirklich ein Mörder? So einfach kann er die Frage nicht beantworten und versucht herauszufinden, ob der Autounfall eines Studienkollegen Zufall oder die Schuld jemandes ist.
Im belanglosen Leben des schüchternen, von wenig Selbstvertrauen geplagten Fukase gibt es nur ein einziges Ereignis, über das er nicht reden möchte, jedoch immer nachdenken muss: Der Ausflug mit vier Freunden zu einem Wochenendurlaub in einem abgelegenen Ferienhaus. Eine fröhliche Party mit reichlich Alkohol sollte es werden. Ausgerechnet Takaaki Murai, dessen Onkel das Haus in den Bergen zur Verfügung gestellt hat, kommt erst später und muss während eines Unwetters vom Bahnhof abgeholt werden. Nur zwei der vier haben einen Führerschein. Hirosawa hat den seinen erst seit kurzem bekommen, dennoch willigt er ein, die gefährliche Fahrt bergab zu wagen. Er kommt nie am Bahnhof an. Am nächsten Morgen wird das Auto in einer Schlucht gefunden. Fukase hat seinen einzigen Freund verloren. Unfall oder Mord? Die vier Schulkollegen kondolieren den Eltern und schwören einander, niemals mehr über den Vorfall zu sprechen. Fukase aber beichtet seiner Freundin die ganze Geschichte und erkennt, dass er den Freund eigentlich gar nicht gekannt hat. Auch die anderen Teilnehmer des so fröhlich geplanten Wochenendes erhalten anonyme Briefe, in denen sie des Mordes an dem Freund beschuldigt werden. Einem Ermittler gleich, macht er sich auf, mehr über Hirosawa zu erfahren.
„»Du bist echt ein geborener Leisetreter“, sagt einer der Kollegen, Freunde im engeren Sinn sind sie alle nicht, zu Fukase, der am liebsten alleine in einem Spezial-Café sitzt und den aromatischen Duft frisch gerösteter Bohnen einatmet. Ein Hinweis darauf, dass sich im Land der Teekultur auch die Liebe zum Kaffee längst durchgesetzt hat. Es ist in so einem kleinen exquisiten Laden, wo er seien erste Freundin, Mihoko, kennen lernt, und sie nach seinem Geständnis gleich wieder verliert. Die wahre Dimension der Ereignisse an jenem längst vergangenen Wochenende geht ihm jedoch erst ganz am Schluss auf.
Kanae Minato, die für ihren ersten Roman „Geständnisse“ weltweit gefeiert worden ist, geht in „Schuldig“ noch subtiler vor, zieht die Leserin mitten in die Gedanken Fukases hinein, immersiv heißt das heute. Obwohl die Autorin Fukase in der dritten Person erzählen lässt – der erste und der letzte Satz werden von Fukase selbst gesprochen –, ist es seine Stimme, die den Gedankenweg vorgibt, seine persönliche Perspektive, aus der die Geschichte erzählt wird. Fließend wechselt er die Chronologie, lässt sich von seinen aktuellen Gedanken und der Suche nach einem möglichen Täter immer wieder in die Vergangenheit des Ferienwochenendes geleiten. Dadurch entsteht eine unheildrohende, eisige Kälte, die es schwer macht, den nach außen hin ereignislosen Erzählstrom zu unterbrechen.
Die japanische Kultur erscheint ein wenig fremd, umso größer ist der Schock am Ende. Auch sind die Moralvorstellungen offenbar völlig andere als in Mitteleuropa, es fällt nicht ganz leicht, Fukases Gedankengänge und Gefühle nachzuvollziehen. Den Erfolg, den die Mittvierzigerin in ihrer Heimat als Autorin hat, wird sie im deutschsprachigen Raum kaum erringen. In Japan wird sie als „Königin von Iyamisu“, einem Subgenre der Mystery Fiction, gefeiert. Doch „Schuldig“ ist weder grausig noch schockierend. Auch wenn der Bericht scheinbar ereignislos dahinplätschert – Fukase ist tastsächlich ein Beamtentyp, ein Erbsenzähler, der jedes Detail akribisch aufzählt –, flicht Minato mit feinsten Fäden ein kompliziertes Gewebe, das nicht nur eine komplexe Geschichte ergibt, sondern auch einen Einblick in die so fremde japanische Kultur gibt.
Kanae Minato: Schuldig, übers. v. Sabine Mangold, C. Bertelsmann. 320 S. € 18,50.