Alice Rohrwacher: "Glücklich wie Lazzaro"
Ein italienisches Dorf im Nirgendwo. Arbeit ist der Lebensinhalt der Frauen und Männer, doch sie bekommen keinen Lohn. Eine despotische Gräfin hält sie als Leibeigene. Mitten unter ihnen lebt Lazzaro, unberührt von allem, aber stets bereit zu helfen, wenn er gerufen wird. Mit leiser Ironie und wachem Blick erzählt italienische Regisseurin Alice Rohrwacher die Legende vom glücklichen Lazarus, der durchs Leben schreitet ohne seiner selbst bewusst zu sein und auch seinen Tod nicht wahrnimmt.
Gemeinsam mit der Kamerafrau Hélène Louvart hat Rohrwacher einen Film über das Leben der Armen und Ausgegrenzten heute geschaffen, ohne das Elend zu romantisieren, ohne nach Mitleid zu fragen, ohne Pathos und Bitternis. Die Hauptperson ist der naive Lazzaro, der von allen ausgenützt wird, weil er ohne nachzudenken bereit ist, allen, auch den Dieben und Einbrechern, freundlich zu helfen. Er kennt weder Gut noch Böse, nimmt das Leben, wie es kommt und lehnt sich gegen nichs und niemanden auf.
Auch nicht gegen die über das Dorf herrschende Gräfin, die die Dorfgemeinschaft ausbeutet und betrügt. Dieses fiktive Dorf Inviolata ist vor Jahren vom Hochwasser des nahen Flusses von der Welt abgeschnitten worden, die Bewohnerinnen, scheint es, sind im Mittelalter stecken geblieben. Vom Rest der Welt erfahren sie nur, was die Gräfin zulässt. Sie teilt ihnen das Nötigste zu, sie brauchen kein Geld und kein Geschäft. Ein junges Paar, das heiraten und fortgehen will, wird eingefangen und bestraft. Stumm ertragen alle ihr Elend, meinen, das sei das normale Los aller, die nicht als Adelige geboren werden. Am Abend singen sie, während sie ihr Brot teilen. Mitten unter ihnen wandelt der junge Lazzaro, ein Träumer, der mit den Wölfen spricht. Freunde, eine Freundin sucht er nicht, ohne zu fragen hilft er auch dem Sohn der Gräfin, Tancredi. Der ist genau so in dem Dorf am Ende der Welt eingesperrt wie die von ihm verachteten Bauern, doch aus einer Laune ernennt er Lazzaro zu seinem Blutsbruder und schenkt ihm eine Zwille als Waffe. Diesen Blutsbruder vergisst Lazzaro nie mehr, auch nicht nach Tod und Auferstehung.
Lazzaro ist ein Heiliger aus Unwissenheit, grandios dargestellt vom jungen Adriano Tardiolo mit vor Unschuld glänzenden Augen. In einer weiteren Rolle ist Alba Rohrwacher, die Schwester der Regisseurin zu sehen. Sie ist die gealterte Antonia, eine der wenigen identifizierten Personen der sonderbaren Gemeinschaft. Als Chefin des armeligen Häufleins, desillusioniert und doch gutherzig, sammelt sie Lazzaro 30 Jahren auf der Straße ein.
Irgendwann wird der Gräfin das Handwerk gelegt, die Bauern werden aus der Sklaverei befreit, doch „gerettet“ sind sie nicht. Zu dem Zeitpunkt aber ist Lazzaro bereits tot, nachdem er einen Bergabhang heruntergefallen ist. Kein Grund für Sentimentalität. Er wird wiedererweckt, nicht von Jesus, sondern von einem Wolf. Mit der Zwille seines Blutsbruders als Waffe macht er sich auf die Suche nach seiner Familie.
Fein balanciert Regisseurin Rohrwacher märchenhafte Magie und realistische Klarheit aus, mischt überraschende Poesie mit nackten Tatsachen und zeigt einen zauberhaften Film, der aus der Ära des großen italienischen Kinos zu stammen scheint und doch erfrischend aktuell ist. Der Preis für das beste Drehbuch war Rohrwacher bei den Filmfestspielen in Cannes 2018 sicher.
Alice Rohrwacher: „Lazzaro felice / Glücklich wie Lazzaro“, Buch und Regie: Alice Rohrwacher, Bildgestaltung: Hélène Louvart. Gedreht im Super-16-Format. Mit Alba Rohrwacher, Adriano Tardiolo, Nicoletta Braschi und anderen. Ab 1. November im Kino. Verleih: Filmladen.