Dancing Pina, Dokumentarfilm von Heinzen-Ziob
Zwei spektakuläre Tanzprojekte zeigen, wie eine junge Generation Tänzer:innen aus aller Welt Pinas Choreografien neu entdeckt: Die Ballettkompanie der Semperoper in Dresden probt Pinas Tanz-Oper „Iphigenie auf Tauris“ zur Musik von Christoph Willibald Gluck. Und an der École des Sables im Senegal proben Tänzer:innen aus ganz Afrika Pinas Ballett „Le Sacre du Printemps“ begleitet von Igor Strawinskys Komposition. Der deutsche Dokumentarfilmer Florian Heinzen-Ziob begleitet die Arbeiten auf zwei Kontinenten. Im Kino ist nun hautnah zu erleben, wie die Tänzer:innen sich die Choreografien von Pina Bausch aneignen.
Initiator des Projekts ist Salomon Bausch, der Sohn von Pina Bausch und Leiter der Pina Bausch Foundation. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Erbe seiner 2009 verstorben Mutter lebendig zu erhalten. Mit dem Pina Bausch Felloship werden Tänzer:innen auf der ganzen Welt unterstützt, um das Erbe von Generation zu Generation weiterzugeben. Wie das funktioniert, kann bei den beiden gefilmten Produktionen in Dresden und im Fischerdorf nahe Daker in Senegal beobachtet werden.
„Wir sind das Stück“, hat Pina Bausch gesagt. Und so kopieren die Tänzerinnen in Afrika und in Deutschland die Choreografien nicht einfach, sondern verändern sie durch ihren Körper, durch ihre Geschichte. Gemeinsam mit seinem Kameramann Enno Endlicher hat Heinzen-Ziob beide Produktionen begleitet. Anders als Wim Wenders in seiner Tanzfilm-Dokumentation „Pina“ (2011), der mit dem Ensemble des Tanztheaters Wuppertal Pina Bausch vor allem die Außenansicht und Ästhetik von Bauschs Choreografien zeigt, geht Heinzen-Ziob ins Herz des Werks von Pina Bausch. 3D-Technik ist nicht notwendig, um auch im Kino schon während der Probenarbeiten eine herzzerreißende Aufführung zu erleben. Regisseur Heinzen-Ziob und den Ballettmeisterinnen gelingt es, das Wesen von Pina Bauschs Tanzsprache sichtbar zu machen: „Wir sind das Stück". Schließlich geht es in beiden Stücken, in der Oper von Gluck und dem Ballett Strawinskys, um Opfer. In den eingeschnittenen Interviews mit Tänzer:innen Senengal und Dresden wird deutllich, dass die Frauen und Männer auch ihr Leben tanzen. Tänzer müssen gegen Vorurteile kämpfen und Frauen ihren Körper verteidigen.
Hat das Ballett in Europa und Amerika einen hohen Stellenwert, so erzählen die Tänzerinnen in Afrika vom Gegenteil. In Dresden sind, auch wenn sie aus unterschiedlichen Ländern kommen, die Tänzer:innen alle klassisch ausgebildet. In der École des Sables, von der afrikanischen Tanzikone Germaine Acogny und ihrem Ehemann Helmut Vogt gegründet und geleitet, war allein das Casting überaus schwierig. Tänzer:innen aus mehr als zehn afrikanischen Staaten sind in unterschiedlichen Kulturen aufgewachsen, kommen vom Streetdance und unterschiedlichem traditionellen und zeitgenössischen afrikanischen Tanz. Dennoch schaffen es die Tanzmeisterinnen, ehemalige Tänzerinnen im Ensemble von Pina Bausch, ein Ensemble zu bilden. Unter dem von der Sonne Afrikas aufgeheizten Zeltdach und im Sand um das Kollektiv geht es um die Männer mit ihrem Machtanspruch auf der einen Seite, und die Frauen gegenüber, die mit ihrer Angst vor der Unausweichlichkeit des Rituals kämpfen. Schließlich aber muss eine das rote Kleid anziehen, dennoch kann sie ihren Körper dem Machtanspruch des Mannes, der bei Bausch kein allmächtiger Gott ist, entziehen. Im spätklassizistischen Bau Gottfried Sempers in Dresden geht es um die Opferbereitschaft und das Mitleid des Individuums, Mann und Frau, Bruder und Schwester stehen einander gegenüber. Einer der ungezählten spannenden Momente ist, wenn Clémentine Deluy der hochgewachsenen Ersten Solistin in Dresden Sangeun Lee erklärt, dass sie sich nicht um kritische Bewertungen ihres Körpers kümmern soll, sondern zeigen, was sie im Moment fühlt und wer sie ist: „Du bist groß, du bist schön, sei du selbst.“ Ebensolche Momente sind bei den Proben in Afrika zu erleben. Die Gruppe tanzt im Sand, um zu spüren, wie schwankend der Boden ist, auf dem sich alle bewegen (Bausch ließ auf der Bühne Torfmull aufschütten, auf dem sich die Tänzer:innen bewegen mussten). Sie tanzen nicht, Täter und Opfer zu sein, jede(r) Einzelne ist es. Eigentlich ist der gesamte Film ein spannender Moment, man vergisst, dass es Proben sind, ist mittendrin, spürt Angst und Trauer, Wut und die Kradt weiter zu machen und fügt sich mit der Tänzerin in das Unvermeidliche. Ein Moment aber, der den Tänzer:innen in Afrika die Tränen in die Augen treibt, ist, als ihnen gesagt wird, dass die vorgesehene Premiere in Dakar nicht stattfinden kann. Im März 2021 wurden alle Theater in Senegal geschlossen. Die traurige Botschaft musste noch erweitert werden: Auch die Tournee durch Europa ist abgesagt worden. Lockdown weltweit. Dennoch feiern die Tänzerinnen und Tänz jihre premie auf eigene Art. Ein Geviert wird im Sand platt gerecht, „Das Frühlingsopfer“ von Pina Bausch findet statt, getanzt von 38 Tänzern und Tänzerinnen aus allen Teilen Afrikas. Der Schlussteil ist im Film zu sehen, gerade wenn die Sonne am Horizont versinkt und den Sand rot beleuchtet. „Als ich zum ersten Mal einen vollständigen Durchlauf des Stückes mit diesen fabelhaften Tänzer:innen sah, war ich tief berührt und bewegt und wünschte mir, Pina hätte diese kraftvolle Interpretation sehen können. Ich bin sicher, sie hätte es geliebt.“ Man kann Germaine Acogny nur zustimmen. Im Herbst 2021 ist das afrikanische Ensemble wieder zusammengetrommelt worden, die Tournee durch Europa kam zustande. Im Oktober machte das Ensemble der École des Sables auch im Festspielhaus Sankt Pölten Station. Glücklich, wer Pina Bauschs in Afrika neu belebte Choreografien sehen koonnte. Das Tanztheater „Iphigenie auf Tauris“ ist 1974 entstanden, „Le Sacre du Printemps“ 1975. Mehr als 50 Jahre danach werden die beiden Choreografien quasi weltumspannend wieder lebendig, in den Körpern der Tänzer:innen in Europa und Afrika. Auf Initiative von Salomon Bausch hat Florian Heinzen-Ziob das Ereignis filmisch dokumentiert. Ein Kino-Erlebnis, nicht nur für Tanzaffine.
„Dancing Pina“, Filmdokumentation
Choreografie: Pina Bausch. Regie, Drehbuch, Schnitt: Florian Heinzen-Ziob Kamera: Enno Endlicher, Igor Novic, Florian Heinzen-Ziob
Probenleitung und Einstudierung: Malou Airaudo, Clémentine Deluy, Josephine Ann Endicott, Jorge Puerta Armenta.
Tänzer:innen: Sangeun Lee, Courtney Richardson, Julian Amir Lacey, Francesco Pio Ricci, Gloria Ugwarelojo Biachi, Luciene Cabral, Franne Christie Dossou, Tom Jules Samie und viele andere.
Drehorte: Semperoper Dresden, École de Sable, Senegal.
Produzent: Fontâne Film. Verleih: polyfilm. Kinostart: 16. September 2022.
Filmstills © Florian Heinzen-Ziob.