„Le Sacre / Common ground(s)” in Sankt Pölten
Igor Strawinsky, dirigiert von Pierre Boulez, und Pina Bausch bringen das Festspielhaus Sankt Pölten zum Beben. Musik und Tanz vereinen sich zu einem einmaligen Ereignis, das auch das Blut der Zuchauer:innen zum Kochen bringt. Getanzt wird „Le Sacre du Printemps“ in der Choreografie von Pina Bausch von einem afrikanischen Ensemble. Ein Kulturaustausch der ganz besonderen Art.
1975 hat die Choreografin Pina Bausch († 2009) ihre Version des Balletts „Le Sacre du Printemps“ mit 38 Tänzer:innen des Tanztheaters Wuppertal zum ersten Mal gezeigt. 45 Jahre später haben nach einem langwierigen Casting 16 Frauen und 16 Männer aus unterschiedlichen afrikanischen Ländern das „Frühlingsopfer“ einstudiert. Geprobt wurde in der „École des Sables“, einem kulturellen Zentrum in Senegal. Salomon Bausch, der als Sohn der großen Tänzerin und Choreografin in der Pina Bausch Foundation das künstlerische Erbe verwaltet und lebendig erhalten will, hat die Idee gehabt, das europäische Werk, das mit der Komposition Strawinskys und der Choreografie der Uraufführung 1913 von Waclaw Nijinsky an Riten im alten Russland erinnern sollte, nach Afrika zu bringen. Auch Pina Bausch hält sich grosso modo an die Vorgabe. Auch bei ihr wird eine Jungfrau als Opfer ausgewählt und muss sterben, damit die Männer an der Macht bleiben. Sind auch die Kulturen unterschiedlich, die Körper und auch das Bewegungsvokabular unterschiedlich, so eint Tänzerinnen und Tänzer aller Länder doch eine gemeinsame Basis: Männer und Frauen sind keine Einheit, sie stehen einander gegenüber, nicht immer feindlich, jedoch unterschiedlich in ihren Ansprüchen, Lebenszielen und ihrer Weltsicht. So tanzen die jungen Frauen und Männer vom anderen Kontinent Pina Bauschs Choreografie, wie sie gedacht ist, und doch auf ihre individuelle Weise. Der „Sacre“, wie Tänzer:innen unter sich das Werk nennen, wird auch von jenen, die Bauschs Tanzstück im Original gesehen haben, ganz neu gesehen. Die Energie und Frische des jungen Ensembles sind so aufwühlend und anregend wie die Musik Strawinskys. Diese Musik hat kein Alter, wie auch die Choreografie kein Verfallsdatum hat.
Unbekümmert betreten die ersten Tänzerinnen in ihren weißen Kleidern, lockeren, langen Hemden, die Bühne. Fast meint man die jungen Mädchen kichern zu hören, der milde Abend wird genossen. Doch da liegt ein rotes Hemd am Rand der Gruppe, eine wird es anziehen müssen, sie wird die Auserwählte sein, auserwählt, um sich zu opfern. Dann toben die Männer über den mit Torf bestreuten Bühnenboden, sie werden wählen, die Frauen drängen sich ängstlich aneinander, und ein furioses Ritual, Frauen gegen Männer, Frauen mit Männern, beginnt. Zusammenstoßen, auseinanderdriften, flüchten und verfolgen, kämpfen und resignieren in schwesterlicher Umarmung. Kaum in einem Stück von Bausch wird so heftig getanzt, die Frauen springen den Männern in den Nacken, sie werden gehoben und getragen, manche bieten sich als Opfer an, werden abgewiesen. Schließlich ist eine genehm, sie muss das roten Kleid anziehen. Die Tänzerin Khadija Cisse ist die vom Einstudierungsteam Auserwählte, sie darf den kräfteraubenden Todestanz zeigen. Als lodernde Flamme rast sie über die Bühne, gerät nahezu in Ekstase. Eine Erinerung an Rebecca Horner, Solotäzerin des Wiener Staatsballetts, und ihren Tanz im Finale von John Neumeiers "Sacre" taucht auf. Auch in der Wiener Staatsoper die gleiche Reaktion wiem Festspielhaus Sankt Pölten: Die Zuschauer:innen wagen nicht zu atmen, dieses Fanal bringt die Glieder zum Zittern und das Herz zum Stillstand.
Auch wenn keine Choreografie der umwerfenden Musik Strawinskys entkommt, die mit den stets wechselnden Rhythmen und den zarten Bläsertönen manche Bewegungen automatisch hervorruft, so sind Energie und Emotionen, die bei Bausch die Tänzer:innen anfeuern, einmalig. Es gibt kaum eine Choreografin / einen Choreografen, die / der sich nicht am „Sacre“ versucht hat, ungefähr 200 Ballette waren schon auf der Bühne zu sehen. Auch nach Pina Bausch ist „Le Sacre du Printemps“ noch choreografiert und getanzt worden – übertroffen wurde ihr bahnbrechendes Werk noch nicht. Mit Recht gilt nicht nur Strawinskys Komposition, sondern auch Pina Bauschs Choreografie als Schlüsselwerk des 20. Jahrhunderts. Und das Ensemble aus Afrika hebt es ohne Anstrengung ins 21. Die kompakte Fülle dieses Balletts geht nicht nur an die Grenzen der Tänzer:innen, sie berührt auch die Sinne und Emotionen des Publikums. Nur 35 Mnuten dauert dieses „Frühlingsopfer“, vielleicht wäre mehr gar nicht zu ertragen.
Vor dem Sturm, vor Wut, Kampfgeist und Furor herrscht als Ouvertüre Ruhe und Gleichklang. Zwei Tänzerinnen von Rang, die in Senegal beheimatete Germaine Acogny und die Französin Malou Airaudo, beide in den 70ern, treffen aufeinander und suchen nach Gemeinsamen und Trennendem. „Common Ground[s]“ nennen sie das Duo. Die Beleuchtung lässt mich glauben, dass die beiden Großmütter (das sind sie tatsächlich) in der Abendsonne am Strand tanzen. Sie haben viel Gemeinsames und sie finden auch Unterschiedliches, dann tanzt jede für sich. Doch bald finden sie wieder zusammen, erzählen einander Geschichten aus ihrem Leben (ohne Worte), trösten einander und werden zu Freundinnen. Ein inniges, persönliches, ja intimes Stück, das sanft und glücklich macht.
„Das Frühlingsopfer / Common ground[s|“ im Festspielhaus Sankt Pölten.
„Le Sacre du Printemps“ Choreografie: Pina Bausch; Musik: Igor Strawinsky.Orignalbühne und -kostüme: Rolf Borzik.
Fotos: © Maarten Vanden Abeele
„Common ground[s]“ Germaine Acogny, Malou Airaudo, Choreografie und Tanz. Fabrice Bouillon LaForest Musik; Petra Leidner Kostüme; Zeynep Kepekli Licht. Sophiatou Kossoko Dramaturgie.
Fotos: © Roswitha Chesher
Gemeinschaftsproduktionen von Pina Bausch Foundation, Éole des sables, Sadler’s Wells. 9. Oktober 2021, Festspielhaus Sankt Pölten.