Roman Polanski: „J’accuse – Intrige“, Historienfilm
Roman Polanski erzählt, kühl und geradlinig den verbürgten Tatsachen folgend, von einem Justizskandal, der in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts die französische Politik erschüttert hat. Es geht um die Dreyfus-Affäre. Doch steht in Polanskis dokumentarischem Film nicht der zu Unrecht von einem Kriegsgericht wegen Spionage verurteilte jüdische Offizier Alfred Dreyfus im Mittelpunkt, sondern der Aufdecker der Fälschungen, Vertuschungen, Intrigen und Falschaussagen, Oberstleutnant Marie-Georges Picquart (1854–1914), der 1895, wenige Monate nach der Verteilung und demütigenden Degradierung, die Leitung des Auslandsnachrichtendienstes (Deuxième Bureau) übernommen hat und den wahren Täter enttarnen wollte.
Der französische Titel des Films erinnert an die Beteiligung des Schriftstellers Émile Zola (1840–1902), der unter der Überschrift „J’accuse – Ich klage an“ 1898 einen offenen Brief an den Präsidenten der Republik geschrieben und damit wesentlich zur Aufklärung des Skandals beigetragen hat. Eben war der eigentlich Schuldige, der Major Ferdinand Walsin-Esterházy, freigesprochen worden. Zola legte die Hintergründe und Rechtsbeugung dar und bezichtigte ranghohe Offiziere des Generalstabs und konservative Medien des Antisemitismus. Er wurde wegen Verleumdung angeklagt und zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Durch seine Flucht nach England entging Zola der Haftstrafe. Im Juni 1899, als Dreyfus aus seiner Verbannung auf der Teufelsinsel zurückkehren durfte, allerdings weiterhin für schuldig galt, ist Zola begnadigt worden. Auch der Aufdecker Picquart ist verurteilt worden und hat 11 Monate im Gefängnis verbracht, er wurde, wie Dreyfus selbst und alle „an der Dreyfus-Affäre Beteiligten“, 1899 begnadigt. Rehabilitiert und freigesprochen ist Dreyfus erst 1906 worden. Er ist wieder in die Armee aufgenommen worden und hat als Major am Ersten Weltkrieg teilgenommen. 1935 ist er an einem Herzinfarkt gestorben.
Seine Enkelin Madeleine Levy ist während des Zweiten Weltkriegs nach Auschwitz deportiert und dort ermordet worden.
Polanskis Film ist nicht der erste über den Justizskandal, schon 1898 brachte Georges Méliès elf Kurzfilme in die eben eröffneten Kinos, die er noch während der Affaire begonnen hatte. Ihm folgte fast ein Dutzend anderer, die immer zu Skandalen, Zensur und Verboten in Frankreich führten. Auch Bühnenstücke, Opern und Tanzstücke folgten; die Literatur über den „Fall Dreyfus“ ist unüberblickbar.
Polanski hat sich am Roman von Robert Harris, der auch das Drehbuch verfasst hat, orientiert. Großartig ist Jean Dujardin (Oscar 2012 als bester Hauptdarsteller in „The Artist“ von Michel Hazanavicius) als gegen alle Befehle und ungeschriebene Gesetze aufrechter, der Wahrheit verpflichteter Offizier Marie-Georges Picquart. Nachdem er zum Chef des Nachrichtendienstes bestellt worden ist, fällt ihm auf, dass auch nach der Deportierung Dreyfus weiterhin Geheimnisse an die Deutschen verraten werden. Zugleich wird er auf das von Antisemitismus durchzogene System aufmerksam und die offensichliche Vertuschung der inkorrekten Vorgänge. Diese Erkenntnisse lassen ihn zum durch nichts einzuschüchternden Kämpfer für die Entlastung des zu Unrecht verurtelten jüdischen Offiziers Dreyfus. Louis Garrel spielt die marginale Rolle von Alfred Dreyfus. Vom ersten Auftritt an unsympathisch, nahezu abstoßend ist Grégory Gadebois in der Rolle von Picquarts Gegenspieler Hubert-Joseph Henry. Als Aufputz dient die schöne Emmanuelle Seigner. Sie ist Pauline Monnier, die verheiratete Geliebte von Picquart. Picquart wird bespitzelt, doch lässt er sich mit der Liaison nicht erpressen.
Polanski hält sich an die Fakten, interpretiert nicht und enthält sich jeder Anspielung auf die Gegenwart, die kommen den Zuschauer*innen von selbst in den Sinn. Das Privatleben des Regisseurs Roman Polanski (geboren 1933 in Paris), seine Verurteilung in den USA wegen „Vergewaltigung und Verwendung betäubender Mittel“ scheint dem Film nicht zu schaden. Bei den Filmfestspielen in Venedig 2019 errang er den Silbernen Löwen (Großer Preis der Jury).
Sehenswert ist der Film allemal, rekonstruiert Harris in seinem Roman doch akribisch den komplizierten Verlauf der erst nach 11 Jahren abgeschlossenen Affäre, das Drehbuch hält sich daran. Auch Zuschauer*innen, die noch nie etwas von dem Frankreich in Aufruhr versetzten Skandal gehört haben, erhalten ein klares Bild des Klimas im ausgehenden 19. Jahrhundert in Frankreich, das von Antisemitismus und Deutschenhass geprägt ist und dem Nationalismus den Weg bereitet. Eine spannende Handlung, differenzierte Dialoge und die hervorragende Leistung der Darsteller (Emmanuelle Seigner ist davon nicht auszunehmen, auch wenn ihre Rolle bestenfalls für das Privatleben Picquarts, doch weder für den historischen Verlauf der Ereignisse noch für den Film von Bedeutung ist) machen das HIstoreindrama sehenswert, alle 130 Minuten lang.
Roman Polanski: „J’accuse – Intrige“, Regie: Roman Polanski, Drehbuch: Robert Harris, Polanski. Mit Jean Dujardin, Louis Garrel, Emmanuelle Seigner, Grégory Gadebois und anderen. Im Verleih filmladen. Im Kino ab 7. Februar 2020.davon