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Ioanna Avraam probt für ihr Debüt als „Giselle“

Ioanna Avraam. Dehnübung an der Stange

Die Freude am Tanz steht Giselle und Herzog Albrecht, der das arglose Bauernmädchen umgarnt, ins Gesicht geschrieben. Auch die Tänzerin Ioanna Avraam, die mit Denys Cherevychko den ersten Akt des romantischen Balletts „Giselle“ probt, ist mit fröhlichem Eifer dabei. Am 9. Oktober wird die Solotänzerin ihr Debüt in der Titelrolle feiern. Der Erste Solotänzer Cherevychko hat seine Rolle schon auf der Bühne getanzt und unterstützt die neue Partnerin liebevoll und unermüdlich.

Die romantische Giselle in Eifmans "Giselle Rouge" (Avraam, Roman Lazik), © Wiener Staatsballett / Ashley Taylor „Komm tanz mit mir. Tanzen ist so schön.“ „Ich kann nicht tanzen.“ „Na komm schon, ich zeig es dir.“ Und schon nimmt Giselle Albrecht bei der Hand, springt mit ihm fröhlich im Kreis. Als musikalischer Begleiter schlägt der erfahrene Korrepetitor Igor Zapravdin kräftig in die Tasten. Dirigent Valery Ovsyanikov beobachtet aufmerksam das Tempo der Tänzer. Er hat am Abend nicht nur das Orchester, sondern auch die Bühne im Auge.
Avraam wird erst am Vorstellungsabend zum ersten Mal  als Giselle auf der Bühne tanzen. Da werden die Dimensionen andere sein, Versatzstücke werden die Bühne begrenzen, hinten in der linken Ecke werden die Gänseblümchen blühen, Giselle darf eines pflücken und die Blütenblätter abzupfen: „Er liebt mich, er liebt mich nicht.“ Noch ist das Blümchen nicht vorhanden, Avraam zupft an ihren Fingern. Denys lacht. Ballettmeisterin Chantal Lefèvre ist einverstanden: „Nice!“.

Nicht nur in der Wiener Compagnie hat sich die Sprache im Ballettsaal vom ursprünglich französischen Idiom ins Englische verschoben. Die Tänzerinnen und Tänzer kommen aus aller Welt, sind des Französischen kaum mächtig, lernen nur allmählich Deutsch. Englisch ist auch im Ballettsaal zur Universalsprache geworden. Nur die Fachausdrücke des klassischen Balletts, von Arabesque über Glissade bis Tour en l’air, bleiben original. In ihrer anstrengenden Ausbildung haben das die Tänzer*innen in Europa ebenso gelernt wie in Asien oder Amerika. Sprungtalent Denys Cherevychko in "Raymonda" © Wiener Staatsballett / Ashley Taylor

Fehler gibt es keine bei dieser Probe zwei Wochen vor der Vorstellung, nur noch kleine Schlampereien. Die üblichen, scheint mir, doch die Ballettmeisterin sieht alles: „Schultern fallen lassen, Schlüsselbeine öffnen, die Linie halten, den Flow (Anmerkung: die fließende, geschmeidige Bewegung), finden.“ Dann die Manege, gemeinsam durchqueren Avraam und Cherevychko in weiten Sprüngen den Saal. Chantal Lefèvre ist zufrieden mit dem lustigen Hüpfen und Drehen. Mich schmerzen die Füße nur beim Zuschauen.

Exakt und furios: Avvraam in "A Million Kisses to my Skinn" von David Dawson. © Wiener Staatsballett / Michael Pöhn Markiert wird auch bei den Proben nicht, voller Einsatz ist gefordert. Nicht nur die Technik muss stimmen, die haben beide im kleinen Zeh, auch der Ausdruck muss stimmen. Die Probenleiterin zeigt selbst, wie sich Giselle kokett abwendet, wenn Albrecht sie bedrängt, wie sie ihn neckt und ihm nach anfänglichem Weigern in die Arme fällt. Denys Cherevychko ist in Verführerlaune, macht es Avraam leicht, ihm zu verfallen. Ein harmonisches Paar.

Am Ende des ersten Aktes wird der ebenfalls in Giselle verliebte Wildhüter Hilarion (in der Vorstellung Alexis Forabosco) Albrechts wahre Identität als Herzog aufdecken und auch dessen Braut vorführen. Mit einer Peitsche statt des Schwertes markiert Lefèvre die gewaltsame Szene. Ioanna lockert inzwischen ihr kunstvoll gestecktes Haar. Das eben noch glücklich verliebte Mädchen ist durch den Schock wie verwandelt. Der Wahnsinn hat sie gepackt. Sie rast über den Dorfplatz, zieht mit dem Schwert einen Hexenkreis, ist nicht mehr von dieser Welt. Ihr Blick ist in die Ferne gerichtet, niemand sonst kann sehen, wonach Giselle am Himmel starrt. Hirngespinste? Halluzinationen? Oder sind es schon die Willis, die durch die Luft flattern und sie in ihren Kreis holen werden? Immer wieder ein Vergnügen: Avraam mit Cherevychko in"Skew Whiff" von Paul Lightfoot / Sol Leon. © Wiener Staatsballett / Michael Pöhn
Ping, ping, ping läutet die Totenglocke. Gespenstisch kündigt das wiederholte g inmitten der rauschenden Klavierbegleitung Giselles Ende an. Auf der Bühne erstarrt die Dorfgemeinschaft mit schreckgeweiteten Augen. Jetzt aber erhebt sich die Tänzerin mit einem erlösten Lächeln. Geschafft!. Chantal Lefèvre nickt zufrieden.  Der 1. Akt wird gelingen. Igor Zapravdin packt seine Noten zusammen. Durch die Tür strömen gut gelaunte junge Corpstänzerinnen, beginnen mit der Dehnung der Muskulatur. Gleich beginnt die nächst Probe.

Randbemerkung: Dominique Meyer, Chef der Wiener Staatsoper, hat den Begriff „Wiederaufnahme“ für Ballettaufführungen aus dem Repertoire abgeschafft. Könnte egal sein, wie eine neue Serie genannt wird. Doch ist damit zugleich auch die Bühnenprobe, die bisher vor Wiederaufnahmen angesetzt worden war, gestrichen.
Nach sechs Jahren Pause, wenn nahezu das gesamte Ensemble einschließlich der Solist*innen die Rollen zum ersten Mal tanzt, wie in "Giselle" aktuell zu erleben war, ist mit dieser Maßnahme weder den Tänzer*innen, noch dem Publikum gedient. Für die einen ist die erste Vorstellung eher ein Orientierungsabend, die anderen haben keine Ahnung, dass sie quasi eine Generalprobe sehen und sind enttäuscht. Nicht jede Sparmaßnahme ist sinnvoll.

Probe für „Giselle“ mit Ioanna Avraam und Denys Cherevychko. Aufführung mit dem Rollendebüt von Avraam am 9. Oktober, Wiener Staatsballett in der Staatsoper.