Tempora: „Habenichtse!“
Mit seiner bisher dritten Produktion, „HABENICHTSE!“, bleibt der 2014 von der Schauspielerin und Regisseurin Veronika Glatzner gegründete „Verein für vorübergehende Kunst“, Tempora, seinem Gründungskonzept treu: „Theaterprojekte in strukturell vernachlässigte Stadtteile zu bringen“. Hatte man sich zwischen 2014 und 2016 bei „on DIS PLAY“ zwischen Hernals und Neubau mit der Selbstvermarktung des Menschen im digitalen Zeitalter beschäftigt – schon hier, wie auch nun bei „HABENICHTSE!“ führt Steffen Jäger Regie –, führte die zweite Produktion, K.s Frauen, von der Straße in eine in die Jahre gekommene, abgewohnte großbürgerliche Altbauwohnung in der Inneren Stadt.
Nun geht es mit „HABENICHTSE!“ erneut in den Stadtraum Wien, konkret in das Fasanviertel, also jenen Teil des dritten Bezirks, der, wiewohl direkt neben dem neuen Wiener Zentralbahnhof gelegen, gleich hinter dem hippen Hotel „Daniel“ und das Wiener Aushängeschild-Projekt „Media Quarter Marx“ vor den Augen gelegen, so gar nicht in das vielversprechende (und viel versprochene) neue urbane Leben führt. Hier treffen einander klassische Bürgerhäuser der Jahrhundertwende und global produzierter Leerstand auf genau jene absehbare Weise, die uns die „Gentrifizierung“ in den letzten Jahrzehnten geschenkt hat: zwischenmenschlich kommunikationsfern, weil virtuell dauervernetzt.
Man ist nichts, wenn man nichts teilen kann.
Manche der fünf (und mit dem Kassaraum eigentlich sechs) „bespielten“, also für uns, das Publikum, für einen Moment ‒ ganz im Sinne des künstlerischen Credos des Vereins also: temporär, vorübergehend ‒ wieder lebendig gemachten Räume wirken, als seien sie erst vor wenigen Tagen verlassen worden, als wäre all das bisschen Leben, das über Jahrzehnte die ruhigen grauen Straßen zwischen Rennweg und Gürtel, zwischen Globalökonomie und Grätzelgemeinschaft zusammengehalten hatte, eben erst aus diesen Läden gewichen. Andere erzählen von jahrelanger Leere, Stille und Beachtungslosigkeit. Und damit ist man auch schon mitten im Thema, denn in „HABENICHTSE!“ dreht sich alles ganz zentral um Gemeinschaften. Um künstlich geschaffene, „unnatürliche“, aber dafür frei wählbare, um neue und ungewollte Gemeinschaften einer durchgewirtschafteten und „zielorientierten“ Welt des Nehmens, für die das „Sharen“ nicht mehr Akt einer selbst gewählten Kultur der Gaben und damit einer heute „nutzlos“ gewordenen „Zwischen-Menschlichkeit“ ist, sondern schon Teil der globalisierten Kommerzialisierung von Menschsein. Da ist zum Beispiel in Volker Schmidts Text „нет проблем“ die junge Frau, die eigentlich ihre große russische Familie „in der Heimat“ gerne öfters besuchen würde, sich das aber nicht leisten kann und daher begonnen hat, ihre Wohnung über „Airbnb“ zu vermieten. Mit dem Endeffekt, dass sie ihre eigene Cousine, die eines Tage unangekündigt vor der Türe steht, um für ein paar Tage Wien zu besuchen, wieder ausladen muss, weil in nur wenigen Stunden schon die nächsten virtuellen „Gäste“ ganz real vor der Türe stehen werden. Gäste, von denen man sich im Idealfall den Vornamen gemerkt hat und die in das eigene, in das einst noch private, nun aber online verkaufte Leben einbrechen, nur um sich dieses, das eigene Leben also, das eigentlich schon ein falsches geworden ist, leisten zu können.
„Das ist ja aber nicht so ideal“, sagt die junge Frau, dargestellt von Jaschka Lämmert als bemühte coole, innerlich aber brodelnde, weil vom eigenen Scheitern (und wohl auch vom Alkohol) zerfressene Proto-Airbnb-Profiteurin, also eigentlich Gescheiterte gleich zu Beginn. Wir sind zu früh gekommen, wir, die falschen Gäste, die eigentlich die richtigen sind, weil wir zahlen und uns auf „Airbnb“ eingelockt und damit quasi der Welt-Wohn-Community verschrieben und also uns dieser auch wunderbar verkauft haben. Sonst wären wir ja nicht hier, in dieser Wohnung, die völlig abgerockt und von leeren Weinflaschen durchzogen vom Frust am Verkauf der eigenen vier Wände zum Wohle der „Teile-Welt“ erzählt.
„Ihre Zukunft ist in unserem Familienunternehmen."
Da gehen wir dann doch wieder rasch. Vielleicht in ein Wiener Kaffeehaus, „dafür sind Sie doch eigentlich da, oder“, schreit sie uns nach, die Vermieterin wider Willen. Man muss ja noch putzen dürfen zwischen den Gästen und dem Frust. Fünf Sterne Bewertung am Ende, wenn möglich, bitte.
Im nächsten Raum, nur wenige Meter entfernt, bleibt der dumpfe Sound derselbe, wird lauter, nimmt den dunklen Raum, in dessen Mitte eine nur durch eine Art Sehschlitz einsehbare Box mit Spiegelfläche am Boden steht, in der sich der Protagonist befindet, nahezu in sich auf und lässt uns zwischen Soundteppich und Verkaufsmonolog in eine ganz neue Welt des Teilens eintauchen: Familientausch. Hier, in Magdalena Schrefels „Familienunternehmen“, hat die „Sharing Community“ dieser Welt ihre Meister gefunden. Hier können wir endlich alles sein, in neuen Familien, in neuen zwischenmenschlichen Konstellationen, so lange wir wollen – und zahlen – und „ohne alle Nebenprodukte“. Familie gegen Bezahlung.
Eine Tür in diesem Hinterzimmer eines ehemaligen lokalen Unternehmens trägt die Aufschrift „Teeküche“. Nein, das ist keines der Dekoteile in diesen klug, weil nicht immer eingängig konzipierten Raum-Installationen, für die Nanna Neudeck und Christoph Fischer bei „HABENICHTSE!“ verantwortlich zeichnen. Das kleine Schild „Teeküche“ an der hässlichen braunen Tür, die hier und heute vom nirgendwo ins nirgendwo führt, erzählt von historisch gewordenen temporären lokalen Gemeinschaften, von Diskursen im Hinterzimmer und ohne „Analytica“, die das hier, an diesen Unorten der Verwertungsgesellschaft Ausgetauschte zweckentfremdet, oder eigentlich verumzweckt, vermehrzweckt und verglobalisiert haben. Währenddessen hört man ihm zu, dem so herrlich vom eigenen globalen Familientauschkonzern euphorisierten dynamischen Jungverkäufer (Martin Hemmer), und denkt für einen Moment darüber nach, ob man wohl zu denen „Spontanen“ gehört, die sich dank der vielen Angebote des Schrefel’schen neuen Weltteileimperiums jeden Tag für eine neue Familie entscheiden, oder zu den „Beständigen“, die ihre Weihnachtskarte für die nächsten 20, 30 Jahre mit dem immer selben „Personal“ vorbestellen können. Dann wird es kalt im Raum. Und wir verlassen ihn in Richtung abendliche Kleistgasse.
"Shareholder des Staus."
Über die neuen Formen „berufsbegleitender“ temporärer Gemeinschaften erzählt David Frühauf im dystopischsten und sprachlich gar bemühten Text „Die Beteiligten“, den Veronika Glatzner grandios in einem bis zur Unkenntlichkeit heruntergekommenen Ecklokal, einem eiskalten Bretterverschlag bei Kerzenlicht in Szene setzt. Die Chefin hatte die so unerwartete Fahrtengemeinschaft, die sich schon bald im Megastau befand, als wunderbare Möglichkeit zur Community-Stärkung heraufbeschworen. Nicht aber das flammende Inferno, in dem der „Stau der Welt“ enden würde. Wenn alles brennt, friert das Individuum. Es bleibt kalt, und man hofft, im nächsten Lokal also auf etwas Grätzel-Nähe und positivere Energie. Und die kommt dann auch. Man ist in Claudia Tondls „Nachbar*innen“ gelandet. Helles, warmes Lokal im nahezu kuscheligen Retroambiente. Es gibt heißen Tee, selbstgebastelte Lieder über den neu gewonnenen Gemeinsinn und eine beherzte, dauerglückliche Grätzeltrefforganisatorin (großartig: Julia Schranz), die uns die Qualitäten des Grätzel-Wir-Gefühls mit den bestmöglichen Argumenten und dem größtmöglichen Körpereinsatz zu vermitteln ansetzt. Wie ist das noch mal mit den Dingen, die man nur selten braucht und die immer im Weg stehen? Warum nicht in den Grätzelteilepool hineinwerfen, kostenlos, versteht sich, damit die anderen, die lieben Nachbarn, über diese Dinge stolpern (inklusive der Katze, die ihren Lebens- und Jagdraum so massiv erweitern könnte), man sie sich, die Dinge, aber dann, wenn man sie braucht, einfach wieder für einen Moment holen kann. Temporär Tauschen und damit die Wohnung entleeren. Ein bisschen Atem holen zwischen all dem Wegwerfwohlstandsmüll. Danke Grätzelgemeinschaft. Denn „Sharing“ – Schranz formt ihren Körper zu einer überdimensionalen Schere – ist „Caring“: Schranz kehrt uns wieder hinaus auf die Straße. So schön warm war es hier in der Tondl-Wohlfühlwelt dieses Abends.
„Schauen Sie sich ruhig um, das kann man alles hier mitnehmen!“
Der wohl persönlichste und humorig-traurigste Text des Abends ist wohl „willgeben“, den die Autorin Grischka Voss auch selbst in einem ehemaligen Souterraingeschäft präsentiert: Der dunkelbraune 80er-Jahre-Wandverbau ist voll mit alten, größtenteils verstaubten Dingen, vor denen es uns schauert, sie berühren, geschweige denn mitnehmen zu müssen. Und doch: Diese Dinge hatten einmal Beziehungen, oder besser: Jemand hatte einst Beziehungen zu diesen Dingen. Denn nicht die Dinge selbst sind es freilich, so die Schauspielerin in ihrer schonungslosen autobiografischen Analyse des gescheiterten Teilens und Gebens, sondern wir, die Menschen, die diese Dinge kaufen, bei uns hinstellen, benützen (oder eben nicht), die diese Beziehungen aufgebaut, gelebt, dokumentiert – und eben auch an einem Moment beendet haben. Dieser Moment, das kann auch der Tod sein, der dann das Ding vom Menschen, den Menschen vom Ding trennt. Anders als in Tondls Nachbarschaftsteileeuphorie endet bei Voss die Freude in dem Moment, in dem man sich eingesteht, dass eben keine Beziehung existiert zwischen all diesen Dingen und uns, wenn man sie nicht empfindet. Und man empfindet sie nicht immer. Dann will man die Dinge loswerden, atmen können, frei sein für Neues, neue Dinge, neue Beziehungen. Sie auch nicht unbedingt wiedersehen, diese Dinge – nein, bitte keine Fotos schicken – und also eigentlich die „Gemeinschaft“ beenden, sind wir doch ehrlich. Doch wohin dann mit diesen Dingen? Die niemand mag und für deren „Entsorgung“ (also: Sorgen los, wenn Dinge los) man auch noch staatlich vorgegebene und teuer zu bezahlende Entmüllungs- und Wohnungsräumungstrupps engagieren oder gar parkplatzraubende und gebührenpflichtige Container anmieten muss? „Ich wünschte, man würde den Sperrmüll wieder legalisieren“, schreit Voss am Ende dieses furiosen Ritts durch ihre eigene verzweifelte Suche nach dem Loswerden von erzwungenen Subjekt-Objekt-Gemeinschaften. Nein, ich will meinen Lebensraum nicht mehr mit dir teilen, du Ding, du. Ich will keine falschen Gäste, falschen Familien und falschen Nachbarn, falschen Warenangebote, falschen Serviceangebote. Dann eben doch Leerstand statt „shared values“?
Die Lehre von der Leere.
„HABENICHTSE!“ ist ein unerbittlicher, kluger, böser, lustiger und eigentlich unheimlich grauslicher Abend über falsch verstandene Gemeinschaften und den Verlust des Teilens und Gebens in einer durchökonomisierten „Weil-wir-es-wert-sind-Welt“. Am Ende bleibt in „DIE BETEILIGTEN“ nur eine/r übrig. Der Gemeinschaftsstau hat in einem feurigen Inferno geendet. Zuerst war es kalt, dann heiß. Jetzt ist es wieder kalt. Ich gehe im Regen nach Hause.
Tempora ‒ Verein für vorübergehende Kunst: „HABENICHTSE! oder: Die bessere Welt des Tauschens, Teilens, Nicht-Besitzens?“ Ein installatives Stationentheater zur „Sharing Economy“. Uraufführung: 5. April 2018.
Mit Texten von David Frühauf, Volker Schmidt, Magdalena Schrefel, Claudia Tondl, Grischka Voss; Darsteller*innen: Veronika Glatzner, Martin Hemmer, Jaschka Lämmert, Julia Schranz, Grischka Voss; Konzept, künstlerische Leitung: Veronika Glatzner; Regie: Steffen Jäger; Ausstattung: Nanna Neudeck, Christoph Fischer. bellart gallery, Fasangasse 42 (Treffpunkt/Startpunkt)
Weitere Vorstellungen: 12.‒14., 19.‒21. April 2018.