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„Raymonda“ von M. Petipa / S. Vikharev auf DVD

Raymondas Traum (Novikova, Vogel) © Marco Brescia & Rudy Amisanonn

Eine glanzvolle Inszenierung seiner Rekonstruktion des Balletts „Raymonda“ von Marius Petipa brachte Sergej Vikharev auf die Bühne der Mailänder Scala. Mit den Gaststars Olesia Novikova und Fridemann Vogel, dem Principal Dancer der Mailänder Oper Mick Zeni samt einer riesigen Schar von Darsteller_innen ist die prächtig ausgestattete Aufführung in der „Scala“ auch aufgezeichnet worden. Bei Arthaus Musik ist sie als DVD erschienen.

1898 erlebte Marius Petipa die Uraufführung seiner letzten Choreografie in St. Petersburg: „Raymonda“. Für den jungen Komponisten Alexander Glasunow, war es die erste Ballettmusik, die er, von Petipa eingeladen, geschaffen hat. Auch nachezu 120 Jahre später wird "Raymonda" mit der teils sensiblen, teils mitreißenden Musik Glasunows allgemein als Juwel geschätzt Auch für Rudolf Nurejew hat „Raymonda“ eine besondere Bedeutung gehabt. Es war das erste große Ballett in dem er als professioneller Tänzer im ehemaligen St. Peterburg aufgetreten ist. Allerdings nur als einer der Ritter.  Raymonda (Olesia Novikova) freut sich auf die Hochzeit © Marco Brescia & Rudy Amisano

„Raymonda“ war jedoch auch das erste große Ballett, das er nach seiner Flucht im Westen auf die Bühne brachte. Er selbst tanzte seine neuen Variationen als Jean de Brienne mit dem Royal Ballett in Spoleto (Festival 1964). Nach drei weiteren Überarbeitungen hat er 1983 die letzte Version von „Raymonda“ zur Eröffnung seiner Ballettdirektion an der Pariser Oper gezeigt. 1985 hat auch die Wiener Staatsoper Nurejews Choreografie übernommen. In der aktuellen Saison, 2016/17, hat Ballettdirektor Manuel Legris die schlummernde Inszenierung aus dem Schlaf geküsst und, als glühender Nurejew-Verehrer, ganz im Sinn des Choreografen neu einstudiert. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit darf ich sagen, dass Raymonda und der Ritter Jean de Brienne auch 2017/18 in Wien tanzen werden.

Raymonda und Jean: Hochzeit im ungarischen Pas de deux.  © Marco Brescia & Rudy Amisano Gegen die Rekonstruktion von Sergej Vikharev wirkt Nurejew Raymonda jedoch blass und langweilig. Nurejew war so technikversessen, dass ier die Handlung vernachlässigt hat, Bewegungen wie im Zeitraffer, komplizierte Sprünge und Drehungen waren ihm wichtiger. Aber drei Stunden nahezu pure Technik? Nicht nur Ballettfans,  Tänzerinnen und Tänzer brauchen ebenso eine Handlung, um spielend zu interpretieren, die einen, um fühlend mitzuleben, die anderen. Auch die Schönheit der Musik Glasunows ist in der Wiener Serie (Dezember 2016 / Jänner 2017) nicht wirklich zur Geltung gekommen.

Sei`s drum: Vikharew und das Ballett der Mailänder Scala bieten eine glut- und blutvolle Aufführung, in der nicht nur die hervorragenden Tänzer_innen, allen voran Olesia Novikova aus St. Petersburg, eine jugendlich zarte Raymonda und Friedemann Vogel, ein echter Ritter, dessen hervorragendes Aussehen allerdings erst zur Geltung kommt, wenn er endlich den Helm abnehmen darf. Im 19. Jahrhundert war der Tänzer eher eine Beigabe zur Ballerina, da wünsche ich mir doch wieder Nurejew herbei, damit Vogel noch mehr von seiner exzellenten Technik und dem einfühlsamen Spiel zeigen kann. Abderahman erscheint Raymonda im Traum (Zeni, Novikova)  © Marco Brescia & Rudy Amisano

Auch Mick Zeni macht als Abderahman, der bei Petipa /Viikharev eher eine pantomimische Rolle hat, tiefen Eindruck. Der "Scheich", wie er politisch unkorrekt früher genannt worden ist, treibt  die Handlung voran und gibt der ganzen nicht wirklich aufregenden Geschichte  ordentlich Pfeffer. Mick Zeni spielt ihn in farbigen Pantoffeln und dem Dolch am Gürtel, mit großer Geste und entschlossenem Aussehen. Ganz echt, ein feuriger Sarazene. Das lässt auch die Aufzeichnung spüren.

Das festliche Ende im ungarischen Stil (Novikova, Vogel). © Marco Brescia & Rudy AmisanoDie Notation von Petipas Choreografie für „Raymonda“ wird mit anderen, von Vladimir Stepanov aufgezeichneten, Petipa-Choreografien in der „Sergeev Collection“ der Theatersammlung der Harvard University bewahrt. Vikharev hat aus diesem Fundus bereits vier große russische Ballette rekonstruiert. „Raymonda“ ist als fünfte Arbeit perfekt gelungen, schwierig bleibt das Ballett auch ohne Nurejew, doch durch das Spiel der Protagonist_innen bekommen die drei Akte auf einmal Sinn. Warum Nurejew den 2. Akt mit einer Apotheose enden lässt und dadurch dem Publikum eine finale Hochzeit vorspiegelt, sodass es sofort an die Garderoben eilt, bleibt unergründlich. Petipa/Vikharev waren da klüger, der Grand Pas hongrois im 3. Akt ist Teil eines Festes und das gefällt

Auch wenn die Kameraführung bei der Aufzeichnung mitunter unkonventionell schein, mit Schwenken in den Orchestergraben, falscher Fokussierung und gar einem Splitscreen ablenkt und den Blick der Zuschauerinnen nicht folgen will, so ist auch auf der DVD die Spannung zu spüren und der zaristische Prunk der Inszenierung zu genießen. Ritter in blitzenden Rüsungten, Sarazenen in Jilbab und Kaftan, die Damen in Samt und Seide gehüllt – ich wundere mich, dass sie überhaupt tanzen können –, die Ballerina, von Schmetterlingen umflattert, von Blumenkindern umkränzt, natürlich immer im kurzen Tutu. So russisch wie es einmal war, als noch der russische Kaiser mit seinem Hofstaat in der Loge saß. Apotheose vor dem Applaus  © Marco Brescia & Rudy Amisano

Mehr Mühe als die Kameraregie hat sich der Tonmeister der Aufzeichnung gegeben: Das Orchester der Mailänder Scala unter Michail Jurowski spielt nuanciert, sanft im Adagio und papriziert, wenn im Finale die Ungarn auftanzen. Alles in allem also eine Aufführung, die man sich auf DVD oder Blue-Ray zu Hause immer wieder ansehen wird. Kaum ein Opernhaus wird eine so aufwändige Inszenierung mit so einer Menge Personal ins Repertoire nehmen.
Einen Schönheitsfehler hat auch die Edition des Live-Mitschnitts: Nur ein Zettel mit wenig aussagekräftigem Text als Beigabe. Weder über das Ballett noch über die Tänzerinnen und Tänzer oder ddie Kostüme (nach den Originalen neu geschaffen von Irene Monti) oder den Choreografen wird etwas erzählt. Um mehr zu erfahren, muss man sich ins Labyrinth des Internets begeben.

Marius Petipa: „Raymonda“, Musik von Aleksander Glasunow, Libretto: Lidia Pashkova und Marius Petipa, rekonstruiert und inszeniert von Sergej Vikharev. Michail Jurowski dirigiert das Orchester der Mailänder Scala. Live aus dem Teatro alla Scala, Mailand 2011 mit Olesia Novikova als Raymonda; Friedemann Vogel: Jean de Brienne; Mick Zeni: Abderahman. Als DVD und Blue-ray erhältlich. Arthaus-Musik / The Art of Elegance