„Die Gestik ist die Sichtbarmachung des Textes“
Opern des 18. Jahrhunderts klingen ganz anders, wenn sie auf historischen Instrumenten gespielt werden. Das wissen wir dank der Originalklang-Bewegung der letzten Jahrzehnte. Doch wie wurden sie eigentlich dargestellt? Choreograph, Regisseur und Intendant des „Teatro Barocco“, Bernd R. Bienert im Gespräch über den Schauspielstil zu Mozarts Zeit und heute.
Wir sind es heute gewohnt, jahrhundertalte Opern in sogenannten modernen Inszenierungen zu sehen. Die meisten Regisseure meinen, man müsse diese alten Stoffe für ein heutiges Publikum übersetzen.
Bernd R. Bienert:
Ich finde es vollkommen falsch, Theater realistisch zu inszenieren. Das ist eine Haltung, die ich an sich schon wieder als historisch empfinde im Sinn von passé. Denn Theater ist eben nicht realistisch, weder Sprechtheater noch Musiktheater, egal, ob Texte von Elfriede Jelinek, Goethe, Schiller oder Lorenzo da Ponte. Das sind komprimierte Texte, die als Synonym für etwas stehen. Diese Dialoge sind keine realistische Unterhaltung, so wie wir uns miteinander unterhalten. Zumeist sind sie bewusst überzeichnet. Auch wenn es realistisch scheint, passt eine ‚realistische‘ Inszenierung nicht. Mozarts Oper „Così fan tutte“, die wir im März 2017 im Schlosstheater Laxenburg spielen, ist so ein Fall.
Eine der am häufigsten inszenierten Opern…
Bienert:
Und oft völlig missverstanden. Es ist nämlich an sich schon eine Kunst, die Regieanweisungen zu dechiffrieren. Bei Mozart und Da Ponte zum Beispiel muss man genau herausfinden, was nicht ins Libretto hineingeschrieben wurde. Damals hat man nicht alles festgeschrieben, denn die Betreffenden wussten, was sie zu tun hatten. Das ist so in der Musik und auch in der Spiel- und Bühnenbildpraxis des 18. Jahrhunderts, etwa, wer wann und wohin abgeht. Mozart schrieb anlässlich der Drucklegung von „Idomeneo“ in einem Brief an seinen Vater von der Angst, vergessen zu haben, eine solche Anweisung notiert zu haben. Das war aber extrem wichtig im Setting der Kulissenbühne. Heute muss man das alles, um es zu verstehen, erst wieder richtig erforschen. Manchmal ist es ohnehin logisch, manchmal aber unklar. Vieles der Komik resultiert jedoch gerade aus diesen Anweisungen. Für das Publikum muss deutlich sichtbar sein, wenn zum Beispiel eine Figur jemand von einem anderen Raum aus beobachtet, er selbst aber von diesen ungesehen bleibt. Das ist dramaturgisch zentral für den Handlungsverlauf.
Was interessiert Sie allgemein an den Opern des 18. Jahrhunderts? Und was speziell an „Cosi“ ?
Bienert:
Grundsätzlich habe ich mich immer für Oper interessiert, denn ich habe ja schon als Kind, noch als Balletteleve in der Wiener Staatsoper, in Opern mitgemacht, zum Beispiel in Franco Zefirellis berühmter „Don Giovanni-Inszenierung, oder in „La Bohéme“ unter Herbert von Karajan. Was „Così“ betrifft, beschäftige ich mich erstmals wirklich eingehend damit und stelle fest, dass die Oper alles andere als langweilig ist, wenn man die Wechsel aus ernsten und komödiantischen Teilen begreift, so wie sie von Mozart vorgesehen sind. Die Oper wird heute ja hauptsächlich wegen der schönen Musik gespielt, und insofern missverstanden, da das nicht der Grund ihrer Existenz ist.
Da Ponte wollte etwas aussagen, sonst hätte er ja keinen Text dazu schreiben müssen und auch Mozart hätte ein reines Orchesterwerk oder ein Oratorium komponieren können, wenn beiden der theatrale Aspekt unwichtig gewesen wäre. „Cosi“ ist eine spezielle Oper, eine Mischung aus Opera buffa und Opera seria, und genau das muss man auch herausarbeiten. Es wirkt auf den ersten Blick so lustig und simpel, aber in Wahrheit ist es sehr philosophisch. Das hat zur Folge, dass in heutigen Inszenierungen oft der komödiantische Teil vernachlässigt wird, weil wir uns viel mehr an der Philosophie orientieren. „Cosi“ ist beinahe wie ein Konversationsstück, mit ungewöhnlich vielen Dialogen für ein Musiktheater. Mozarts geniale Musik hilft auf einer bestimmten Ebene dem Verständnis, denn musikalisch geht viel, was man optisch nicht machen kann, das wollte Mozart bestimmt so. Allerdings hat er oft auch als Dialoge gedachte Rezitative als Gesangsnummern auskomponiert, wodurch der Text schwer zu erfassen bleibt. Gerade darum ist es Aufgabe der Regie, den Inhalt der Texte optisch zu versinnbildlichen. Ich inszeniere „Cosi“ heute neu, um das Werk endlich wieder verständlich zu machen, und das bedeutet auch, die Texte wieder sichtbar und verstehbar zu machen, aber nicht, sie in eine unverständliche Formensprache zu übersetzen, sondern sie aus dem Vokabular der Mozartzeit zu entwickeln.
Das hört man allerdings öfters von Regisseuren, dass sie ein Werk in die heutige Zeit übersetzen wollen.
Bienert:
Es ist natürlich ein Unterschied, Verdi oder Mozart zu inszenieren, das sind ganz verschiedene Voraussetzungen. Verdi war immer ein politischer Komponist, und er hat seine Stoffe immer historisch in eine andere Epoche versetzt. Mozart nicht, bei ihm ist alles zeitlich aktuell gewesen und war auch nicht vordergründig politisch, aber durchaus zeitkritisch. Viele Regisseure kommen vom Schauspiel und inszenieren Oper wie ein Schauspiel, ohne den Affekt der Musik zu beachten, der aber eine Wichtige Rolle spielt. Ich versuche dagegen, jedes wichtige Wort, das zudem auf Italienisch gesungen wird, optisch darzustellen. Ich bin überzeugt, dass man den Text durch die Bewegung sinnbildlich übersetzen muss, damit das Publikum den Handlungssträngen auch in den Rezitativen folgen kann.
Womit wir bei der historischen Schauspielpraxis wären, die in der Originalklang-Bewegung ja kaum vorkommt.
Bienert:
Ja, im Gegensatz zum Gesang und instrumentalen Spiel war die Darstellung in der Originalklang-Bewegung, für mich völlig unverständlich, nie ein Thema.
Was für eine Vorstellung haben Sie über die damalige Aufführungspraxis?
Bienert:
Ich glaube, die Sänger zu Mozarts Zeit waren Singschauspieler, und es ging um das theatrale Erlebnis insgesamt. Ich bin glücklich über meine Besetzung des Don Alfonos mit Wolfgang Holzmair, denn der entspricht dieses Typus wunderbar. Mozart hat aber so gute Musik gemacht, dass seine Werke schon allein überlebt haben, in erster Linie wegen der Musik. Für mich zählt aber dennoch das theatrale Moment, weil man sonst nicht versteht, warum Mozart überhaupt an Musiktheater interessiert war. Ich möchte das wieder so sichtbar machen, wie es gewesen sein könnte. Man weiß über seine Zeit zwar viel, aber gerade über die Da Ponte Opern leider relativ wenig, weil es davon kaum Bilder gibt. Die Sänger hatten bestimmt kleinere Stimmen als heute, denn auch die Theaterräume waren ja wesentlich kleiner, die Instrumente leiser. Man weiß aus der theaterhistorischen Literatur, dass der Schauspielstil im Barockzeitalter formalisiert und kodifiziert war, alles andere als naturalistisch. Ich glaube auch, dass die Gestik schon deshalb groß sein musste, weil man in der relativ dunklen Beleuchtung ansonsten nicht viel erkennen konnte. Zu Mozarts Zeit gab es sowohl Kerzen als auch Öllampen, und Brände waren damals ja häufig. Fast hätte auch die „Così“- Premiere 1790 nicht stattgefunden, da kurz davor im alten Burgtheater ein Kulissenteil Feuer fing.
Wir wissen auch, dass die Sänger sehr gut improvisieren konnten und ihre Kunstfertigkeit im Gesang zutage brachten.
Bienert:
Ja, die Verzierungen, sogenannte „abellamenti“, sind ein wichtiger Punkt, denn die Fermaten sollten ja besonders ausgeziert werden. Das stand so nicht in den Noten, doch damals wussten alle genau, was sie zu tun hatten. Heute hat man leider diesen musealen Bewahrungsansatz, man darf um Gottes Willen nichts verändern, und vergisst dabei, dass genau das die Lebendigkeit des Theaters ausgemacht hat!
Es war wohl eher so wie im Jazz heute, da lernt man diese bestimmte Kunst der Improvisation.
Bienert:
Genau. Das größte Problem bei Mozartopern sind ja nicht die Arien, die kann man singen oder nicht, besser oder schlechter.
Die Rezitative sind viel schwieriger, und für mich ist die Interaktion zwischen dem Cembalisten, der Basso Continuo-Gruppe als Begleiter und dem Sänger wichtig. Denn da gibt es nur Tonhöhen als Vorgaben, aber kein Tempo und keinen Rhythmus, auch keine Anweisung zum Charakter des Gesangs. Es ist nur ein Gerüst vorgegeben, das heute leider oft grundsätzlich so verstanden wird, als wäre es die Komposition. Aber in Wirklichkeit ist das was da notiert ist recht mager und eigentlich nur ein Anhaltspunkt, der der Fantasie der Ausführenden bedarf, und darum klingen heute die Rezitative oft so langweilig. Man hört ja sofort, ob die Sänger überhaupt eine Idee davon haben, was sie da überhaupt singen. In den meisten Fällen klingen die Rezitative kaum interessanter, als würden die Sänger aus einem Telefonbuch vorlesen. Abgesehen davon, dass der Text in einem antiquierten Italienisch geschrieben ist, das man auch dann nicht sofort verstehen muss, wen man Italienisch kann. Man muss vor Probenbeginn erst einmal alle Texte analysieren und neu übersetzen. Ich habe da viel Arbeit investiert und alles mit einer Übersetzerin und unseren Korrepetitoren besprochen. Zum Teil sind sogar die erhältlichen Standard- Übersetzungen völlig falsch. Immer wieder werden auch mythologische Anspielungen falsch übersetzt, wie z.B. in „Così“ sehr oft Artemisia als Artemis übersetzt wird, das ist aber eine ganz andere Geschichte. Man muss auch Italiener fragen, wie sie das verstehen. Zum Beispiel die Felsenarie in „Cosi“, da ist kein Felsen an sich gemeint, sondern eine Klippe im Meer. Sozusagen „ein Fels in der Brandung“, nicht auf dem Berg. Wenn ich das weiß, höre ich die Musik anders. Bis dahin habe ich nicht wirklich verstanden, was mit dieser „Felsenarie“ der Fiordiligi konkret gemeint war. Aber seitdem ich die richtige Übersetzung kenne und mit unserer wunderbaren Sängerin Anne Wieben die Gestik dazu erarbeitet habe, ist alles klar geworden. Dann wird nicht nur durch die Stimme, sondern auch durch die Bewegung klar, worum es dieser Frau eigentlich geht. Sie will den beiden zudringlichen Männern widerstehen, fromm wie eine Klosterschülerin. Diesen komödiantischen Aspekt, den diese Arie ja auch mitträgt, sollte man keinesfalls außer Acht lassen.
Sobald die Bedeutung sowohl optisch als auch musikalisch klar ist, versteht auch das heutige Publikum, was gemeint ist, ohne irgendwelche Überbrückungshilfen. Gerade diese zwischenmenschlichen Dinge gelten ja heute noch genauso wie vor 250 Jahren. So anders ist das alles gar nicht.
Wenn man nicht mit dem Text arbeitet und irgendetwas anderes darüberlegt, dann hat es das Publikum sehr schwer. Es muss einerseits die Musik aufnehmen, gleichzeitig den Text verstehen und schließlich die Deutung der Inszenierung kapieren, das ergibt im Extremfall eine sehr schwer zu dechiffrierende Aufgabe!
Aber dann könnte man doch trotzdem die Geschichte in die Gegenwart versetzen.
Bienert:
Dann frage ich Sie: Was ist denn bitte die Gegenwart? Und warum sehen wir diese immer aus unserer europäischen Sicht? Ich bin überhaupt nicht gegen moderne Inszenierungen, ich habe nur kein Verständnis für komplette Veränderungen des Sinnzusammenhangs. Ich muss auf jeden Fall zuerst den Urtext herausfiltern, was auch immer ich dann mache. Es ist ähnlich wie mit einem Kochrezept aus dem 18. Jahrhundert mit Ingredienzien, die es heute so nicht mehr gibt oder die verboten sind, wie z.B. Singvögel. Also nimmt man dann etwas anderes zum Kochen und am Ende ist das Rezept falsch umgesetzt. Es fehlt uns heute oft nur das Verständnis von damals, deshalb tauscht man Dinge aus. Das Problem ist, das ich wissen muss, was das für eine Welt damals war, damit ich sie überhaupt in eine andere Zeit versetzen kann. Die Sätze so wie sie dort stehen, heißen teilweise etwas anderes. Da liegen die vielen Regiefehler. Es gibt leider sogar schlechte Inszenierungen von guten Regisseuren, die zwar ihren eigenen Stil haben, den aber dann über so ein Werk stülpen. Dann ist es zwar neu und gut zu verkaufen, aber deswegen ist es noch lang nicht gut. Ich mache mir lieber die Arbeit, das Alte als das was es ist herauszuarbeiten, denn das ist heute ja auch schon wieder neu.
Es ist letztlich genauso eine Interpretation, denn wir wissen ja trotz Quellenlage nicht, wie es war, wir kennen aber die Methodik der damaligen Zeit. Ich möchte noch auf die Gestik und Bewegung zu sprechen kommen, die ja das Besondere Ihrer Inszenierungen ist. Da spielt sicher eine Rolle, dass Sie vom Tanz kommen.
Bienert:
Für mich ist die Gestik keine Gebärdensprache, sondern die Sichtbarmachung des Textes, eine Art Nachdruck für Musik und Worte. Oper funktioniert ja nicht nur über Hören, sondern auch über Sehen. Diesen wichtigen Aspekt hat eben die Originalklang-Bewegung bisher sträflich vernachlässigt. Der musikalische Teil wird versuchsweise rekonstruiert, aber der optische Teil fällt unter den Tisch.
Ich habe viel Material dazu gelesen, etwa Gilbert Austin oder Franziskus Lang. Ich nehme, wie darin erwähnt, auch historische Kunstwerke der Zeit, Bilder und Kupferstiche als Anregung. Ich glaube, dass Gestik und Bewegung verständnisfördernd sind. In vielen Opern-Inszenierungen generieren Regisseure Bedeutungen, wo gar keine sind und helfen dem Publikum nicht wirklich dabei, zu hören und zu verstehen. Oft stimmt die Bewegung der Protagonisten einfach nicht zur Musik oder zum Text, sie ist unorganisch. Bewegung und Gestik muss man ebenso proben wie den Gesang, das weiß ich als Tänzer natürlich, dass da ein Fluss entstehen muss. Ich will aber nicht behaupten, dass die damaligen Sänger alles genau so streng kodifiziert dargestellt haben, wie es in den historischen Büchern dargestellt ist, denn wie diese Regeln letztlich wirklich gehandhabt wurden, wissen wir nicht. Da hat es sicher Abweichungen gegeben, zumal in einer Komödie. Würde man in unserer Zukunft einmal ein Buch über die Balletttechnik nach der Waganowa-Methode aus dem 20. Jahrhundert finden wird, wäre die Schlussfolgerung, dass alle damals so getanzt hätten, ja auch falsch.
Was würden Sie Mozart gern fragen?
Bienert:
Ich würde Mozart gern dabei zusehen, wie er ein Rezitativ mit seinen Sängern probiert. Das hat er bei den Proben zu den Uraufführungen ja immer selbst einstudiert. Heute geht so etwas aber fast nicht mehr, dass der Dirigent in die Inszenierung eingreift, oder der Regisseur in die Musik. Es wäre aber richtig, denn es ist ja die Theatermusik, die das Spiel bedingt, den Ausdruck erzeugt. Umgekehrt müssten auch die Sänger den Dirigenten am Cembalo herausfordern, damit das Werk seine Lebendigkeit zurückgewinnt.
Was ist Mozart für Sie persönlich?
Bienert:
Er ist unglaublich intelligent und umfassend gebildet, und ein wahnsinnig sensibler Künstler. Dabei ist er immer auch ein in seiner Gefühlsebene verständlicher Mensch. Seine Witze sind so, wie sie auch Elfriede Jelinek macht. Mozart ist gültig, weil er über seine Epoche hinaus intelligent ist. Ich will seine Qualitäten sichtbar machen, denn die sind völlig zeitlos. Und zwar im ganzen theatralen Zusammenhang, nicht nur in den Arien.
Bernd R. Bienert, 1962 in Wien geboren, Tänzer im Ballett der Wiener Staatsoper und am Nederlands Dans Theater, Ballettdirektor am Opernhaus Zürich, zahlreiche Choreographien und Inszenierungen. 2012 Gründung von Teatro Barocco, das sich auf Opern des 18. Jahrhunderts spezialisiert.
Das Gespräch führte Barbara Freitag anlässlich der Premieren des Teatro Barocco im Schlosstheater Laxenburg, März 2017.