Michikazu Matsune zwischen Dada und Gaga
Schon der Titel von Michikazu Matsunes neuestem Streich – Nothing is Something like Everything – verursacht bei feinfühligen Anglistinnen Zwerchfellkontraktionen. Englisch ist auch die Sprache auf der Bühne, auch wenn keine Anglistinnen / Amerikanistinnen anwesend sind. Englisch ist die Arbeitssprache der Performance. Doch in dieser Uraufführung im Schauspielhaus geht es nicht um die Sprache, sondern um die Zeit. Und die „ist ein sonderbar Ding, …“
„… wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts, aber dann auf einmal, da spürt ma nichts als sie.“ (Die Marschallin vor dem Spiegel in der Oper Der Rosenkavlier, Libretto von Hugo von Hofmannsthal:
Michikazu Matsune lässt das Publikum die Zeit sogar sehen. Der aus Kobe gebürtige längst eingewienerte Japaner ist ein Multitalent, bedient sich vielfältiger Instrumente und Medien. Der der Leib gehört dazu und das Gehirn auch. Überdies besitzt er die seltene Gabe der Vis comica. Sein unerschöpflicher Fundus an Ironie und Humor wird mit stoischer Miene vorgetragen. Anders als viele Damen und Herren des Kabaretts, die gerne über ihre eigenen Scherze lachen und damit die im ORF-Studio hochgehaltene Aufforderungstafel: „Jetzt lachen!“ ersetzen, überlässt Matsune das verstehende, befreiende oder auch verwirrte Lachen seinem Publikum. Als Reisender versammelt er es in aller Welt vor seiner Bühne, die er an möglichen und unmöglichen Orten errichtet. Diesmal geht es wieder einmal um den von ihm geliebten Small Talk, um das Erzählen von Anekdoten, wahr oder ausgedacht, nicht jede schafft den trockenen Humor, mit dem Matsune sich vorstellt. Er sammelt Liebes- und Abschiedsbriefe und stellt Fragen nach intimen Gewohnheiten. Etwa die nach der Nachtruhe. Wie viele Personen er mit der Frage: „Wie hast du letzte Nacht geschlafen?“, aufgeweckt hat, ist nicht bekannt, doch in einer vom Künstler herausgegebenen, nachtblauen Publikation festgehalten. Was ist zu erwarten von der Ankündigung, Nichts ist irgendwas wie alles, für elegante Wortspiele ist die deutsche Sprache offenbar nicht geeignet. Nicht nur „Nothing, Something, Everything“ versetzt mich in Entzücken, auch der von Marianne Dobner, Kuratorin im mumok, für die ImPulsTanz-Serie ebendort erfundene Wordjingle kann das: Unter dem Titel nowhere / now here verbirgt sich das Festival-Programm im mumok, Ausstellung und Performance.
Vom Sidestep ins Museum wieder zurück auf den Hauptweg im Schauspielhaus. Matsune hat sechs Künstlerinnen und eine digitale Uhr auf die Bühne geladen. Diese beobachtet die Show, damit sie nicht zu lang wird. 60 min, 3600 s, 36000 ds soll sie dauern und mit der letzten ds setzt auch der Applaus ein.
Michikazu Matsune Herrscher der Zeit! Die Uhr ist stumm, dreht aber gegen Ende durch. Hilfe kommt aus der Steiermark. Der Alleskönner Daniel Hafner ist nicht nur gemeinsam mit Frans Poelstra für den Sound verantwortlich, sondern bringt auch den Zeitmesser wieder zum Arbeiten. Auch von Mitspielerin Alexandra Mazek höre ich kein Wort, sie sitzt an der Rampe in sich versunken, sagt nichts, bewegt sich nicht, meditiert eine Stunde lang. Eine perfekte Performance mit stillstehendem Mundwerk. Zum Ausgleich haben die anderen (siehe unten) umso mehr zu erzählen. Die Zehntelsekunden (ds) rasen dahin, die Choreografin und Tänzerin Martina De Dominicis kommt als Schwarzer Mann in Motorradkluft und liefert buntes Essen aus. Fünf Münder schmatzen genussvoll. Im Gedächtnis bleibt wohl auch der Brottanz mit Laiben, Laberl, Wecken, Weckerl und Stangen. Nach Dada und Gaga Absurdismus und Surrealismus. Neben dem Amüsement ist auch Mitdenken verlangt. Gekonnt balanciert MM über das Drahtseil, das er sich selbst zwischen Höhen und Tiefen, Banalität und Originalität, zwischen Bedeutung und Nonsens gespannt hat. Applaus, Jubel, Verbeugung. Abgehen, wiederkommen, der Jubel will nicht enden. Die Zeit ist besiegt, der Japaner in Wien hat gewonnen.
Michikazu Matsune: Nothing is Something like Everything, Uraufführung im Rahmen von ImPulsTanz im Schauspielhaus, 31. Juli, 2. August 2024.
Konzept und künstlerische Leitung: Michikazu Matsune
Performance: Martina De Dominicis, Luiza Furtado, Daniel Hafner, Michikazu Matsune, Alexandra Mazek, Frans Poelstra und Nicola Schößler
Bühnenbild und Kostüm: Luiza Furtado, Daniel Hafner und Michikazu Matsune; Sound und Musik: Daniel Hafner und Frans Poelstra: Licht: Sveta Schwin
Produktionsassistenz: Almud Krejza; Produktionsleitung: Franziska Zaida Schrammel / Studio Matsune; Produktion: Studio Matsune / Verein Violet Lake
Fotos: © Maximilian Pramatarov