Turnen ist der neue Tanz
Der flämische Choreograf Alexander Vantournhout wird nicht nur in seiner Heimat Belgien gefeiert, auch in Wien begeistert er im ImPulsTanzFestival das Publikum: 2023 in dem Duett Through the Grapevine mit Axel Guérin, ein Mitglied der Compagnie not standing, die heuer im Gruppenstück Foreshadow im Volkstheater turnt.
Acht akrobatische Tänzerinnen negieren die Schwerkraft, trotzen ihrem Körper, bewegen sich horizontal und vertikal und verblüffen, indem sie das Unmögliche möglich machen. Der weiße Tanzboden ist an drei Seiten offen, hinten wird die Bühne durch einen einige Meter hohen Prospekt begrenzt, der als Kletterwand genutzt werden kann. In der Stille erscheint der erste Tänzer, bewegt konzentriert Arme und Beine, eine zweite Person gesellt sich dazu, und bald sind alle acht Mitglieder von Vantournhouts Ensemble not standing im weißen Kubus in Bewegung, wie der Name sagt. In unaufhörlicher Dynamik entwickelt sich ein Energiefluss, wandert von einem Körper zum anderen. Solos und Duos, Quartette und Oktette und jegliche Kombination dazwischen sind zu sehen.
Die hellen Kostüme, blassblau und resedagrün sind die Shirts und Shorts der acht akrobatischen Tänzerinnen, lassen Arme und Beine frei, die werden gebraucht, um zu stützen und zu halten und wunderbare Architektur zu errichten. Der präzise arbeitende Körper auf der Bühne besteht aus acht Gliedern mit jeweils vier Tentakeln. Arme werden Beine, Beine sind Arme, der Kopf ist einmal oben, dann wieder unten. Was kann damit alles gebaut und gezeigt werden! Ist scheint keine Anstrengung notwendig zu sein, um wie ein Gecko an der Wand zu kleben, wie geschickten Gibbons zu hangeln und zu schwingen oder rittlings hoch auf dem schmalen Grat des wandartigen Prospekts zu sitzen.
Die Tieren abgeschauten Kunststücke scheinen leicht, von einer geheimnisvollen, sanften Kraft angetrieben. Ein Turm aus Beinen, eine Kathedrale aus Armen wird konstruiert, die Gebilde zerfallen wieder, die Gruppe bewegt sich als Perpetuum Mobile, linear und im Kreis. Foreshadow ist eine harmonische Performance, der Schwarm protzt nicht mit seiner Kraft, die einzelnen Glieder konkurrieren nicht miteinander. Mit „höher, schneller, weiter“ hat der vielgliedrige Schwarm nichts zu tun. Die Schwerkraft gilt es zu hintergehen, die Grenzen des Körpers auszuloten, das Gleichgewicht zu halten und gemeinsam scheinbar Unmachbares zu schaffen.
Der Großteil der Aufführung fesselt das Publikum auch ohne Musik und Geräusche, hie und da werden ein paar Klangfetzen der britischen Band This Heat: that’s it eingespielt. Diese kurzen Klangpassagen strukturieren die Choreografie und halten die Zuschauerinnen bei der Stange, beziehungsweise bei der Wand, die von kletternden und an ihr klebenden Körpern belebt wird.
Wie im Kino oder im Zirkus dient die Musik auch dazu, die Spannung zu erhöhen und den Zuschauerinnen anzukündigen, dass gleich Spannendes und Aufregendes passieren wird. Foreshadowing wird in der Literatur, am Theater und im Film eingesetzt, um die Neugier auf spätere Ereignisse zu wecken. Diese Methode heißt nach dem russischen Dichter Anton Tschechow auch „Tschechows Waffe“. Ihm wird die Feststellung: „Wenn man im ersten Akt eine Pistole an die Wand hängt, dann sollte sie in einem der folgenden gefeuert werden. Sonst lasst sie lieber weg“, zugeschrieben. In einem Brief äußert er sich ähnlich: „Man darf kein geladenes Gewehr auf die Bühne setzen, wenn niemand daran denkt, es abzufeuern.“ In der Choreografie von Alexander Vantournhout ist der Titel Foreshadow, die Zuschauerinnen betreffend, blanke Ironie. Sie haben keine Ahnung, was demnächst passieren wird. Die Überraschungen sind eingeplant.
Ob tanzende Akrobatinnen oder turnende Tänzerinnen auf der Bühne agieren, ist nicht festzustellen, und das ist auch nicht wichtig. Sie sind alle großartig. Doch die Zirkuskunst überwiegt, der neue Tanz ist akrobatisch, ist höchste Körperkunst, fließend, präzise und als Gemeinschaft. Doch die Tänzerinnen turnen, sie tanzen nicht auf die alte Weise. Der Applaus verweist auf ein begeistertes, zufriedenes Publikum.
Nach einer Stunde wiederholen sich allerdings die Szenen und Abläufe, die Ketten, Linien, Kreise und Spiralen, die Türme und geometrischen Konstruktionen überraschen nicht mehr. Die Arbeit zweier Dramaturgen ist nicht zu erkennen, auch wenn die Szenen und Übungen ineinanderfließen, fehlt mir eine Steigerung oder ein Gefälle, eine Mitte und ein Höhepunkt, oder auch mehrere Höhepunkte. Auch ein Finale ist nicht erahnbar, nicht sichtbar. Der Auftritt endet einfach, indem das Licht gelöscht wird. Das hätte genauso gut 15 Minuten früher passieren können, bevor die Langweile vom Publikumskörper Besitz ergreift.
Seitenschritt. Am Tag darauf habe ich das ImPulsTanzFestival mit dem Kultursommer Wien betrogen. Daphna Horenczyk und Alberto Cissello studieren eine Tanzaufführung ein. Einige Nummern dieses großartigen, sehr komischen Duos, fünf konkret, haben sie auch schon fertig und nennen ihre Performance keck Numbers / Nummern. Wie auf dem Videoausschnitt zu sehen ist, haben sich auch die Kinder Im Wilhelmsdorfer Park (1120, Meidling) königlich unterhalten, auch wenn sie noch gar kein Englisch können. Aber wiegende Hüften, sich verschlingende Beine und Zauberkunststücke ohne Kaninchen verstehen auch die Allerkleinsten. Das Open-Air-Kulturfestival mit Schauspiel und Tanz, Kabarett und viel Musik findet die Spielorte außerhalb des Gürtels in Parks, wo technisch ausgestattete Bühnenhäuschen aufgestellt werden. Das Publikum hängt in Liegestühlen unter freiem Himmel, oder im Schatten alter Bäume. Der Eintritt ist frei. Das ist schön, aber nicht gut. „Gratis ist nur der Tod, und der kost’ das Leben“, hat meine Großmutter gern gesagt. Der römische Dichter Horaz stellt in seinem Essay Ars poetica, fest, die Dichter böten „Nützliches und Unterhaltsames“, und das gilt für sämtliche Kunstsparten. Die Dose Bier ist auch im Sommer nicht gratis.
Bremse anziehen, zurück zu ImPulsTanz.
Alexander Vantournhout / not standing, Volkstheater im Rahmen von ImPulsTanz, 24., 25., 26.7.2024
Konzept und Choreografie: Alexander Vantournhout;
Mitarbeit und Performance: Noémi Devaux, Axel Guérin, Patryk Klos, Nick Robaey, Josse Roger, Emmi Väisänen, Esse Vanderbruggen und Alexander Vantournhout.
Dramaturgie: Rudi Laermans und Sébastien Hendrickx, Kostüme: Patty Eggerickx; Musik: THis Heat; Licht: Bert Van Dijck, Sound: Ruben Nachtergaele.
Fofos: © Bart Grietens
Daphna Horenczyk und Alberto Cissello: Numbers, ein musikalisches Kabarett im Kultursommer Wien 2024.
gesehen am 27.Juli 2024 im Wlhelmsdorfer Park, Meidling. Die erste Vorstellung ist am 25. Juli im Reithofferpark, in Rünfhaus über die Bühne gebraust.
Fotos: © Daphna Horenczyk, Alberto Cissello