Unsichtbare Menschlichkeit
Was wie die Endszene eines Science-Fiction-Films aus den 1980er Jahren wirkt, ist das Anfangsbild von Astrid Boons' Stück Khôra. Die belgische Choreografin zeigt ihr Gruppenstück Rahmen des 41. ImPulsTanz Festival als Teil des Programms für junge ChoreografInnen, (8:tension), in der vor allem vom Tanzquartier genutzten Halle G im Museumsquartier.
Fünf PerformerInnen befinden sich im Stillstand auf schaumstoffenen Elementen auf einer begrenzten Bühne in der Halle G. Sie sind in Ganzkörpersuits gekleidet, deren Hautfarbe durch das Licht bestimmt wird – von grün, blau bis rot ist alles vertreten. Die epische Anfangsszene verspricht Geschehen, denn bis alle sitzen, befinden sich die PerformerInnen in einem reptilienartigen Stillstand auf den Elementen verteilt. Sie warten auf einen Fang oder auf irgendetwas, das sie wollen. Das Stück ist philosophisch inspiriert und behandelt die Entstehung, Bekleidung oder das Erleben von Heterotopien, einem Begriff, den Michel Foucault geprägt hat und der einen Nicht-Raum beschreibt – einen Ort im Raum-Zeit-Kontinuum, der außerhalb der Norm steht.
Zeit wird anders oder gar nicht wahrgenommen. Dinge geschehen in einem entfremdeten Zustand, in dem die Dinge stillzustehen scheinen und dennoch lebendig sind. Die PerformerInnen verkörpern dies, indem sie die Identität der Reptilien übernehmen und in wartenden und reagierenden Aktionen auf sich selbst, andere PerformerInnen und das Bühnenumfeld treffen. Das Publikum bleibt außen vor der vierten Wand, es besteht keine aktive Interaktion oder Ansprache an die ZuschauerInnen. Licht, Sound und Bewegung sind die essenziellen Elemente in diesem Stück, die gekonnt aufeinandertreffen und einander hervorheben. Das Bühnenbild dient dabei als Projektionsfläche für das Geschehen, denn der Schaumstoff bietet sanftes Ankommen an raue und kratzende Klänge sowie krampfartige Bewegungen.
Sexualität wird abstrahiert, und durch die Ganzkörperanzüge wird körperliche Nähe anders wahrgenommen. Nacktheit wird nicht gezeigt, jedoch werden die Körper sehr intim wahrgenommen. Die Anzüge sind wie eine zweite Haut, die die PerformerInnen als sie selbst zeigt, aber nicht entblößt. Das Stück ist insgesamt sehr homogen, es gibt keinen Höhepunkt, keine konkrete Handlung und keine Konklusion. Es ist ein fortlaufender Prozess, in dem Verhalten beobachtet wird, ähnlich wie in einem Reptilienkäfig, und Raum für persönliche Interpretation der ZuschauerInnen entsteht. Die Bedeutung wird in der Interpretation von Menschlichkeit in den animalischen Gesten gefunden. Die PerformerInnen sind halb Mensch, halb Reptil, und der Verwandlungsprozess ist stetig spürbar. Das Stück führt in eine düstere Welt, die dekonstruktivistische Ansätze bietet, um die Welt und unser Verhalten zu interpretieren, wie ein bewegtes Stillleben.
Astrid Boons: Khôra, im Rahmen von ImPulsTanz / [8:tension], 20., 22. Juli, Museumsquartier, Halle G.
Konzept und Choreografie: Astrid Boons
Co-Choreografie und Performance: Karolina Szymura, Spencer Dickhaus, Amy Josh, Matilde Tommasini and Lukas Karvelis
Musik: Miguelángel Clerc Parada
Kostümdesign: Bregje van Balen; Set und Lichtdesign: Zaza Dupont; Lichttechnik: Lisette van der Linden; Dramaturgie: Eva Martinez
Fotos © Sjoerd Derine