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Klingende Körper, getanzte Kulturgeschichte

Francois Chaignau, Aymeric Hainaux in „Mirlitons“

Mirlitons von François Chaignaud, der dieses Jahr sein 20-jähriges ImPulsTanz-Jubiläum begeht, und Aymeric Hainaux feierte seine Österreich-Premiere im Wiener Odeon. 2010 waren der Choreograf und Tänzer und der bildende Künstler und Beatboxer einander das erste Mal begegnet. Seit 2020 arbeiten die beiden gemeinsam an dieser anhaltenden, sich stetig verändernden, herausfordernden Begegnung, die ebenso schelmisch wie experimentell, Referenzgenreich wie berührend ist.

Der Titel der herausfordernden Begegnung lässt viele Deutungen zu. (François Chaignaud, Aymeric Hainaux) Allein der Titel, Mirlitons, verweist auf den erwartbaren Wissensschatz, den eine Arbeit Chaignauds erwarten lässt. Und so findet auch jede googlebare Bedeutung des Begriffs an diesem Abend ihre Referenz: So könnte der grüne Wollpullover, den der Performer im Anfangsteil zu einem ledernen Anzug trägt, ehe er ihn, einer mittelalterlichen Haube gleich über sein Haar knotet, etwa als jene vermutlich aus Mittelamerika stammende gleichnamige Kürbisfrucht – besser bekannt als Chayote oder auch Stachelgurke – gelesen werden, die in den Jahren der amerikanischen Kolonialzeit vor allem in den heutigen USA eine neue Heimat fand. Als Mirlitons wurden aber auch einfache, oft von Kindern gespielte Zwiebelflöten bezeichnet, von denen Chaignaud eine Anspielung darauf an mehreren Stellen im Stück einsetzt – und schon Tschaikowsky ließ im Nussknacker jene Rohrflöten tanzen (Dance de Mirlitons). Auch die aus Münzen bestehende Haube, die Aymeric Hainaux trägt, erinnern an Mirlitons, wie der Louis d'or oft bezeichnet worden ist. Französische Louis d’or, Mirlitons, scheinen auch in der Münzhaube verarbeitet zu sein, die Hainaux zu Beginn des Stücks rasseln lässt. Und die in Rouen, der drei Stunden von Chaignauds Geburtsstadt Rennes entfernten Hauptstadt der Normandie, beliebten historischen Cremetörtchen werden ebenfalls als Mirlitons bezeichnet und schmecken meist nach Mandeln, Zitronen oder Orangen– es sind Farben und Gerüche, die an diesem Abend ebenso in den Sinn kommen wie Krieg und Zustände von Dominanz und Unterwerfung. Alles fließt, Crème-de-Mirlitons-gleich, in diesem Stück auf engstem Raum zusammen, Geschichte und Gegenwart, Trance, Traum und Trauma. François Chaignaud benötigt für Spiel und Tanz nur ein kleines Podest.
Konzentration und Komposition.
In Wien wird das Stück im Odeon gezeigt. Die gewohnten Sitzreihen sind abgehängt, Publikum und Performer begegnen einander auf engstem Raum auf der Bühne, wir sitzen alle auf kreisförmig platzierten Podien oder auf dem Boden. Die eigentlich Spielfläche ist noch reduzierter; zwei einfache Bühnenpodeste, zueinander etwas verschoben, stehen für die beiden Performer bereit; darauf ist ein schwarzer Tanzboden geklebt, der bald schon harte Risse, der Aufbau selbst am Ende sogar Löcher bekommt. Bereits während des Einlasses beginnen Hainaux und Chaignaud, sich im Raum zu bewegen und diesen zu erkunden. Hainaux, eine an Krieg und Münzen (Mirlitons?) erinnernde Goldhaube tragend, beginnt langsam zu summen, während Chaignaud ihn zu erkunden beginnt und seinen Bühnenpartner bald schon durch den Raum trägt, während Hainaux’ Gesang (wohl ganz im Sinn des historischen Haubenzitats) marschmusikgleich immer lauter und schlagender wird. Chaignaux und Hainaux: Wer den Ton angibt bleibt immer wieder offen.Der Rhythmus des Abends ist vorgegeben: Von nun an geht es in immer heftigeren, oft auch schmerzhaft lauten Beats, die einzig aus dem Mund des Sängers kommen und mit einem kleinen tragbaren Mikrofon verstärkt werden, weiter, wird treibender, schweißtreibender, aggressiver, manischer. Chaignaud, im Lederanzug mit grünem Strickpullover, schlägt seinen mit einem Stein beschwerten Wanderstock wieder und wieder auf die winzige Tanzfläche, während er in schwarzen Irish-Dance-Schuhen mal klackt und kickt, steppt und dann wieder auf der Spitze tanzt, schwebt und doch schwer in den Boden knallt. Wer gibt hier den Ton an, wer ruft zum Tanz – Impuls und Reaktion, Körper und Objekte werden in Mirlitons zu einander in Bewegung, in Resonanz, an manchen Stellen fast in Trance versetzenden gleichberechtigten Partner:innen. Der grüne Pullover von Chaignaux erinnert an die Kürbisfrucht Chayote, die auch Mirliton gennant wird.
Brüche. Mirlitons ist bei all dem kein stetig ekstatischer werdender improvisierter Begegnungsraum, sondern ein auch in Licht- und Kostümregie klug komponierter Abend. Die Performance ist in mehrere, stilistisch wie energetisch unterschiedliche Abschnitte gegliedert, die meist mit einem kurzen Stop der Aktionen einsetzen, mit Umzügen – so ändert auch Hainaux sein Kostüm, trägt zuerst Alltagskleidung (T-Shirt, Shorts), dann ebenfalls einen, in seinem Fall leinenen Anzug, während Chaignaud die Hainaux’sche Schellenhaube des Beginns mit einem Schellenhemd zitiert, das er im mittleren Teil des Stücks über sein weißes Hemd zieht und den grünen Pullover von nun zur an Brueghel erinnernden Haube umfunktioniert –, aber auch Tempoverschiebungen, Lichtwechseln und je neuen Weisen, auf die sich die beiden Performerkörper in jeder der Sequenzen anziehen und abstoßen. François Chaignaud betrachtet die Welt der Mirlitons von unten.Wer den Impuls gibt, bleibt immer wieder offen, mal glaubt man, es sei der Beat Hainaux’, dann wieder Chaignauds harter Fußschlag, an anderer Stelle gibt man den Stöcken, dann wieder einer langen, mit Kuhglocken behängten Kette, schließlich nur noch dem einen oder anderem Atemzug den Vorrang, irgendwann aber gibt man auf und nimmt diesen Tanz als das wahr, was er ist, ein gemeinsames Erzeugen von Momenten höchster Intimität, die den althergebrachten Taktstock von Herrschaft und Führung schon lange aus der Hand gelegt haben. Wenn am Ende langsam die Lichter ausgehen und die Stimmen der Münder, Beine und Arme verhallen, erwartet man das obligate Black, das man an diesem Abend bereits einmal erlebt habt.
Doch es wäre keine Arbeit von Chaignaud, wenn er es dabei beließe und der Erwartbarkeit Rechnung zollte. Kein Black, sondern, noch einmal, ein langsames Aufgehen der Lichter, bis zuletzt der ganze Saal für alle gemeinsam erstrahlt – und die Vögel ihren letzten Kommentar in die wundersame Stille dieser großen Intensität verschenken.

Aymeric Hainaux & François Chaignaud: Mirlitons, ImPulsTanz im Odeon, 19., 20.07.2024
Konzept und Performance: Aymeric Hainaux und François Chaignaud; künstlerische Zusammenarbeit: Sarah Chaumette; Kostüme: Sari Brunel; Licht: Marinette Buchy; Sound: Jean Louis Waflart, Patrick Faubert, Aude Besnard; technische Leitung: Marinette Buchy, Anthony Merlaud; Produktion: Mandorle Productions
Die Uraufführung hat im November 2023 beim Festival d'Automne in Paris stattgefunden.
Fotos: © Martin Argyroglo