Vier Jahreszeiten, Vier Körper: Pure Magie
Der Choreograf Radouan Mriziga und die Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker haben, mit Unterstützung der Geigerin Amandine Beyer, gemeinsam Antonio Vivaldis Programmmusik, vier Concerti mit dem Titel Die vier Jahreszeiten, in Bewegung umgesetzt. Il Cimento dell’Armonia e dell’Inventione, uraufgeführt im Mai 2024 in Brüssel, ist als Höhepunkt des ImPulsTanzFestival vier Mal im Volkstheater gezeigt worden.
Radouan Mriziga und Anne Teresa De Keersmaeker haben vieles gemeinsam. Immerhin hat Choreograf Mriziga in der von De Keersmaeker gegründeten Schule P. A.R.T.S (Performing Arts Research & Training Studio) studiert, er weiß, wie De Keersmaeker denkt. Schon einmal haben sie erfolgreich zusammengearbeitet, ein Stück konstruiert, sich mit Geometrie und der Natur beschäftigt. Im Garten des Maison des Arts in Brüssel haben sie 2020, inmitten der Pandemie, die Performance 3ird5 @ w9rk gezeigt. Nun also Antonio Vivaldi: Le quattro stagioni / Die vier Jahreszeiten. De Keersmaeker mag’s gern kompliziert, deshalb borgt sie sich den Titel der Sammlung von 12 Concerti Vivaldis, in der Die vier Jahreszeiten den Anfang bilden. Man darf ihn sich auf der Zunge zergehen lassen: Il Cimento dell’Armonia e dell’Inventione, mit Das Wagnis von Harmonie und Erfindung oder auch Der Kampf von Harmonie und Erfindung übersetzt. Das Ensemble von Amandine Beyer, Gli Incogniti, interpretiert Vivaldis Musik eindringlich und plastisch, sodass man die abgedroschene Musik ganz neu hören kann. Aus Zeitgründen sind die Musikerinnen unter Beyer, die in den Jahreszeiten die Solovioline spielt, in Wien nicht dabei. Wie bei den Proben in Brüssel erklingen Vivaldis musikalische Bilder von Frühling, Sommer, Herbst und Winter von der Konserve, 2015 eingespielt von Gli Incogniti. Dem Zauber, der von diesem Gesamtkunstwerk aus Musik, Tanz und Licht ausgeht, tut dies keinen Abbruch. Im Gegenteil, die vier umwerfenden Tänzer – Boštjan Antončič, Nassim Baddag, Lav Crnčević, José Paulo dos Santos – haben Takt und Rhythmus bereits im Körper. Getanzt wird vom Männerquartett nicht nur zu Vivaldis Musik – die Kürze der vier Concerti ergäbe keinen Festivalabend –, sondern auch in der Stille. 90 magische Minuten, gefüllt mit Tanzbildern in allen Stilen, bis hin zu fantastischen Breakdance Nummern, vergehen im Flug. Wenn Nassim Baddag im Hintergrund seine nicht enden wollenden Head Spins dreht, vergisst man Zeit und Raum.
Die Choreografie ist, wie die Interpretation der Musik von Amandine Beyer und ihrem Ensemble, so plastisch, dass man die Hitze der Sonne, die Kälte des Winters spürt, das Flackern des Feuers, das Knirschen des Eises vernimmt, das Bellen der Hunde und Singen der Vögel hört und die Jäger im Wald oder die schlafenden Hirten im Gras sieht. In der Stille sind die Passagen abstrakt, hier wird De Keersmaekers Handschrift deutlich. Es darf auch geschmunzelt und gelacht werden. Beyer lässt in ihrer Einspielung einen Hund bellen, die Tänzer wischen sich in der Sommerhitze den Schweiß aus dem Gesicht und schlagen nach den Gelsen, lassen die Hosen runter und hoppeln trunken vom süßen Wein über die Wiese. Im Winter wird natürlich auf dem Eis getanzt und als Quartett im Takt geschlittert. Mitunter geben sich alle Vier ganz der Musik hin, sind melancholisch, wenn die Blätter fallen und glückselig, wenn „der sanfte Zephir weht“, wie es im Gedicht, L‘Estate / Der Sommer, steht, das die vier Concerti Vivaldis begleitet. Vier Sonette von je drei Strophen, den drei Sätzen der Violinkonzerte entsprechend, im Zyklus Le quattro Stagioni zusammengefasst, erzählen, was Vivaldi vertont hat. Ob die einfachen Gedichte von Vivaldi selbst verfasst worden sind, ob sie vor der Musik oder erst danach entstanden sind, ist nicht bekannt. Doch die Bilder, die die Verse evozieren, finden sich in der Musik und auch in einzelnen Tanzpassagen wieder. Dass ein Quartett tanzt, lässt auch vermuten, dass jedem Tänzer eine Jahreszeit zugeordnet ist. Sicher ist, dass der Herbst Boštjan Antončič gehört. Er eröffnet mit seinem Solo die Performance.
Auf dem Bühnenboden sind Kreise und Spiralen gezeichnet und so bewegen sich auch die Tänzer, in Kreisen, Spiralen und Linien. Mit einem Tanz der Leuchtröhren, die die Bühne reihenweise einrahmen, flackern, aufleuchten und erlöschen, beginnt der Abend, dann tanzt Antončič in der Stille. Mriziga und De Keersmaeker haben den Herbst vorangestellt, wenn die Musik einsetzt, sehen wir die Schrift an der Wand: L’Autunno. Vielleicht wollen sie sagen, dass die Welt ihren Herbst erlebt und die Kriege, das Hassen und Töten, die Rücksichtslosigkeit der Natur gegenüber bald in Eiseskälte, Erstarrung und Tod enden werden. Vivaldi allerdings sagt das nicht, er beschreibt die Natur und ihre Erscheinungen, die Fauna und Flora und auch die Menschen, verzichtet auf Mahnung und Moral, findet im Winter „ruhige und zufriedene Tage“ und akzeptiert die Welt, wie sie ist. „So ist der Winter. Doch – welche Freude bringt er.“ (Ende des Gedichtzyklus in der Übersetzung von Werner Braun)
Anne Teresa De Keersmaeker, Radouan Mriziga / Rosas, A7LA5: Il Cimento dell’Armonia e dell’Inventione, ImPulsTanzz im Volkstheater, 15. –19.7:2024.
Konzept, Choreografie, Bühnenbild und Licht: Anne Teresa De Keersmaeker, Radouan Mriziga
Mitarbeit und Performance: Boštjan Antončič, Nassim Baddag, Lav Crnčević, José Paulo dos Santos, Kostüme: Aouatif Boulaich;
Musik: Antonio Vivaldi, Le quattro stagioni, Amandine Beyer, Gli Incogniti. Alpha Classics/Outhere Music 201. Musikalische Beratung: Amandine Beyer.
Fotos: © Anne Van Aerschot