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W. Kentridge: Zwischen Pathos und Poesie

Der Frauenchor aus Südafrika macht die Aufführung zur Oper.

William Kentridge, der unvergleichliche Künstler aus Südafrika, hat wieder eine Show inszeniert. The Great Yes, The Grat No ist der rätselhafte Titel des theatralischen Opernspektakels, mit dem der Meister und sein Team derzeit durch Europa reisen. Auch im ImPulsTanz Festival hat die Produktion haltgemacht und mit drei Vorstellungen im Burgtheater das Publikum unterhalten.

Die Bühne ist ein Dampfer, der von Marseille nach Martinique fährt, die Passagiere fliehen vor Hitler.Der Schauplatz ist diesmal ein Schiff, die Themen sind alle die, von denen der multitalentierte Kyoto-Preisträger (2010) angetrieben wird: Kolonialismus, Sklaverei, Exil, Migration, Unterdrückung, Ausbeutung und die Sehnsucht nach Freiheit. Für Négritude steht das gesamte Ensemble, vor allem der zentrale Chor von sieben Frauen, die mit ihrem Gesang, begleitet von vier Musikerinnen, das Pasticcio aus Sologesang und Chor, Tanz und Text und dem eindrucksvollen, stets wechselnden Bühnenbild zur Grand Opéra formen.  Die bunte Schiffsgesellschaft, in der Mitte vorne: Charon, der Animateur und Begleiter.
Die Basis ist ein reales Ereignis: Am 24. März 1941 verließ das französische Frachtschiff „Capitaine Paul Lemerle“ den Hafen von Marseille. Kein Obst oder Gemüse wurde transportiert, sondern Menschen, eine Gruppe prominenter Flüchtlinge. 222 Personen verschiedener Nationalitäten und Konfessionen, vor allem Personen aus Wissenschaft und Kunst, waren an Bord. Kentridge nennt oder zeigt sie alle und lässt durch den Reiseleiter – er nennt ihn Charon, den Fährmann in der griechisch-römischen Mythologie, der die Passagiere in den Hades führt – noch andere historische Persönlichkeiten, die nicht wirklich auf dem genannten Dampfer waren, einladen. Kentridges Fantasie ist überbordend: Ich sehe diese Herren als Hohlköpfe. So sitzt auch Leo Trotzki an Deck und Stalins Fratze schaut über die Reling. Josephine Baker kommt gemeinsam mit einem Zwilling, ebenfalls eine Josephine; Nachname Bonaparte. Sie war die erste Frau Napoleons. An Bord war damals auch der französische Surrealist André Breton, Kentridge gesellt ihm auch andere Vertreterinnen des Surrealismus hinzu und spickt das Spektakel mit allerlei Zitaten. Josephine und Josephine – Baker, Bonaparte: Tanz auf dem Vulkan.
Die DarstellerInnen sind gedoppelt. Einerseits sind sie selbst Vertreterinnen verschiedener Bevölkerungsgruppen, die Sängerinnen singen Lieder in ihrer Sprache; andererseits schlüpfen sie, meist an übergroßen Papier-Masken erkennbar, in die Rolle der historischen Persönlichkeiten, die 1942 tatsächlich vor Hitler geflohen waren oder vom Autor und Regisseur 1924 aufs Schiff geholt worden sind. Als Gegenpol sieht man auch jene, denen die bunt gewürfelte Gesellschaft ausweicht, einmal sind sie als Theaparty versammelt: Holhlköpfe, Fischgesichter, Vogelgehirne.
Das große Ja, das große Nein ist ein fantasievoller Titel, Zweimal André Breton. Der alte Dichter unterhält sich mit seiner eigenen Jugend. doch in der bunten Schau gibt es zwar viele Fragen, teils pathetische Texte, teils poetische Zitate, doch keine Antworten. Die überlässt Kentridge dem Publikum, das durch das Schaukeln des die Bühne bildenden Schiffs auf den Meereswellen schnell kapiert, auf welch schwankendem Boden wir uns befinden. Nix ist fix, sogar Länder verschwinden, alles ändert sich und für die Freiheit gibt es keine Garantie. Der doppelgesichtige Surreealist. William Kentridge versteht den Ernst der Lage mit Ironie zu würzen. Martinique gehört übrigens auch heute noch zu Frankreich, ist dadurch Mitglied der EU. Doch heute reist niemand aus Europa über den Atlantik, um der Heimat zu entfliehen, sondern fliegt durch die Lüfte, um den Zauber der Karibik, Rum und Ananas zu genießen und Mist hinterlassend wieder abzureisen. Auch eine Art von Kolonialismus.
Der  siebenköpfige Frauenchor singt wohltönend in mehreren afrikanischen Sprachen. Der Tag war heiß, das Bugtheater ist prall gefüllt, die Worte vom dauernd plappernden Charon, die Zitate und Merksätze rauschen an den Ohren vorbei. Schließlich ist William Kentridge weder Oberlehrer noch Prediger, er ist ein Unterhaltungskünstler mit ethisch-moralischen Grundsätzen, der anbietet, aber niemanden hineindrücken will. Seine Bühnenstücke prunken durch eine abwechslungsreiche Fülle von Zeichnungen, animiert oder fotografiert, Collagen, Filmen und Videosequenzen, Projektionen und Schattenspiel. Josephenie Bonaparte, Josephine Baker wollen niemanden mehr über sich bestimmen lassen. Die Augen haben ebenso viel zu tun wie die Ohren, wenn der feine Gesang und die kleine Band die Reise begleiten.
Kentridge ist ein gefinkelter Regisseur, er weiß, wie man das Publikum bei der Stange, diesmal an der Reling, hält und würzt die Aufführung mit Satire und Humor. Auch die Surrealisten müssen nicht ernst genommen werden und Josephine Baker kann weiß oder schwarz sein, jedenfalls zeigt sie sich im Bananenröckchen. Bretons zwei Manifeste sind die intellektuellen Grundlagen des Surrealismus. Könnte sein, dass auf Martinique an einem „Manifest der unabhängigen revolutionären Kunst“ gebastelt wird.. Kentridges Schiff, das unter einem Himmel aus sich stetig drehenden konzentrischen Kreisen in ferne Galaxien führt, ist kein Totenschiff, es soll in die Freiheit, in eine bessere Zukunft führen. Selbst wenn es sein Ziel nicht erreicht, ist es ein Schiff der Hoffnung: Charon will leben, die illustre Passagiergesellschaft will leben, das Publikum will leben. Wir müssen leben, weiterleben, dürfen die Hoffnung nicht aufgeben. Wenn Charon mit seinem Megaphon neben der Unterhaltung auch eine Botschaft verkündet, dann ist es diese: Weiterleben. Wie Kentridge, nicht müde werden im Aufzeigen von Ungerechtigkeit und Unterdrückung.

William Kentridge: The Great Yes, The Great No,
ImpulsTanz im Burgtheater, 16., 18., 19. Juli 2024
Uraufführung: 7. Juli 2024, Festival d'Aix-en-Provence.
Konzept und Regie: William Kentridge, Regieassistenz: Nhlanhla Mahlangu, Phala O. Phala; Kostüme: Greta Goiris; Bühnenbild: Sabine Theunissen, Chorkomposition: Nhlanhla Mahlangu; Musikalische Leitung: Tlale Makhene, Dramaturgie: Mwenya Kabwe; Video: Kim Gunning
Performance: Xolisile Bongwana, Hamilton Dhlamini, William Harding, Tony Miyambo, Nancy Nkusi und Luc de Wit; Kino, Oper, Theater, Spektakel, Show – der Chor begleitet, vermittelt Schöheit und Hoffnung. Choreografie / Tanz: Thulani Chauke, Teresa Phuti Mojela
Chor: Anathi Conjwa, Asanda Hanabe, Zandile Hlatshwayo, Khokho Madlala, Nokuthula Magubane, Mapule Moloi und Nomathamsanqa Ngoma
Liebe-Musik: Marika Hughes (Cello), Nathan Koci (Akkordeon, Banjo), Tlale Makhene (Percussion), Thandi Ntuli (Klavier).
Fotos: © Monika Rittershaus, Stella Olivier