„Le Pavillon d’Armide" mit Mihail Sosnovschi
Mihail Sosnovschi ist Vaslaw Nijinsky im zauberhaften Ballett „Le Pavillon d’Armide" von John Neumeier. 2009 war die Uraufführung in Hamburg, 2017 die Premiere in Wien, nun ist dieses Gustostück an vier Abenden in der Wiener Staatsoper zu sehen. Am 16. März konnte ein Wiedersehen mit der Premierenbesetzung fast aller Solorollen gefeiert werden. Einzig Maria Yakovleva (Tamara Karsawina) hat gefehlt.
Yakovleva, die bei der Premiere vor zwei Jahren mit Nina Tonoli und Denys Cherevychko den Pas de trois der Originalchoreografie von Michael Fokine (St. Petersburg 1907) getanzt hat, stimmt sich auf Shakespeare und Berlioz ein. Sie tanzt heute, am 17. März, in der Volksoper die Titelrolle im Ballett „Roméo et Juliette“ von Davide Bombana. Liudmila Konovalova erscheint Nijinsky als die Tänzerin Tamara Karsawina.
Neumeier greift in seiner Choreografie immer wieder auf das historische Ballett „Le Pavillon d’Armide“, von Michael Fokine für die Balletts Russes geschaffen, zurück. Die Pariser Premiere 1909 hat den Erfolg von Sergej Diaghilews Ensemble begründet. Doch zeigt Neumeier keine trockene Rekonstruktion, sondern baut Ausschnitte aus Fokines Choreografie in die Beschreibung von Vaslaw Nijinskys innerem Erleben ein.
Ausgangspunkt ist die Aufnahme des Startänzers im Sanatorium „Bellevue“ in Kreuzlingen am Bodensee, wo Ludwig Binswanger psychisch Kranke behandelt hat. Im großen Park stand ein Pavillon, den Nijinsky bewohnt hat. Die Vorlage für Fokines Ballett stammt von Théophile Gautier, der auch das Libretto für das Ballett „Giselle (1841, Choreografie: Jean Coralli und Jules Perrot, Musik: Adolphe Adam) geliefert hat. Gautier erzählt in seiner Novelle die fantastische Geschichte von Omphale, einer Figur aus der griechischen Mythologie, die auf einem Gobelin dargestellt ist, und in der Nacht von der Wand steigt, um die Liebe eines Jünglings zu erwidern. Realität oder Halluzination? Bei Neumeier sieht der von der Außenwelt getrennte Nijinsky ebenfalls Szenen und Figuren, die niemand sonst sieht. Die Erinnerungen an seine Vergangenheit als Tänzer, an die Tage mit den Balletts Russes machen ihn glücklich, flößen ihm auch Angst ein, wenn er sich selbst als weißer Sklave (Denys Cherevychko) oder im Danse siamoise (Davide Dato) zusieht. Seine Frau Romola (Nina Poláková) wird zu Armide, der Arzt (Roman Lazik) erscheint ihm als Serge Diaghilew. In der Begegnung Nijinskys mit sich selbst als junger Mann ist Richard Szabó „Nijinsky als Schüler“.
Was dieses Ballett so faszinierend macht, sind die zwei Tanzwelten, die Neumeier kontrastierend vereint. In der Gegenwart des Sanatoriums bewegen sich die Tänzer*innen in Neumeiers neoklassischer, in diesem Stück modern-expressiver Tanzsprache, die Visionen aus der Vergangenheit zeigen klassischen Spitzentanz in kostbaren Kostümen, die Neumeier den von Alexandre Benois entworfenen Originalen nachempfunden hat. Für den Prospekt des Parks verwendet Neumeier die Originalzeichnung Benois für das Bühnenbild der Uraufführung.
Die Probenleiterinnen Chantal Lefèvre und Alice Nescea sowie Probenleiter Albert Mirzoyan haben beste Arbeit geleistet. Obwohl sowohl in den bezaubernden Szenen mit den Ballets Russes Tänzer*innen wie auch als Spaziergänger*innen im Park viele ihren Part zum ersten Mal tanzen, bewährt sich wieder einmal die Qualität des Wiener Staatsballetts.
Neumeier erzählt keine Chronologie des Lebensabschnittes von Nijinsky, sondern zeigt seine Gefühlswelt. Mit Mihail Sosnovschi hat er den richtigen Tänzer gefunden. Sosnovschi tanzt Nijinsky nicht, er ist es. In jeder kleinen Bewegung, auch in der Mimik spiegelt sich eine Palette von Emotionen, von Glück und Freude der Erinnerung bis zu Lebensangst und Wahnsinn. War Sosnovschi bei der Premiere 2017 noch überexpressiv, so ist er diesmal mehr nach innen gekehrt, verfällt niemals ins Posenhafte und wechselt doch gekonnt von einer Tanzsprache in die andere, wenn er seine Visionen verdoppelt. Diese Blicke des kranken Nijinsky auf seine glückliche Jugend und seine Erfolge auf der Bühne berühren besonders. Auf der Bühne ist es Nijinsky, der sich von der Vergangenheit verabschieden muss, doch es ist auch ein erfolgreicher Solotänzer, dem das Publikum reichlich Rosen gestreut hat, der den jüngeren Kollegen und Kolleginnen beim Tanzen zusieht. Herzzerreißend ist auch der Pas de deux von Nijinsky mit Dhiagilev, großartig intensiv getanzt von Sosnovschi mit Roman Lazik.
Am Ende fügt sich der einstige Stern am Tanzhimmel ins Unvermeidliche. Gibt Hut und Mantel seinem jungen alter Ego, steht nackt und bloß da, versucht noch einmal ein paar Tanzbewegungen. Der Vorhang fällt und fast schalkhaft leitet Neumeier zum zweiten Stück des Abends, „Le Sacre“ über: Zaghaft und verfremdet erklingen die ersten Klarinettentöne der Musik zu „Le sacre du printemps“ von Igor Strawinski.
In der Pause können wir darüber nachdenken, dass Nijinskys Name auch eng mit dem „Sacre“ verbunden ist. In seiner Choreografie wurde Strawinskis Musik zum Tanz. Die Tänzerinnen waren missmutig, weil sie statt zu schweben den Boden stampfen sollten, das Publikum war empört, weil Strawinskis Musik aufregend, verwirrend, erotisch war. Auch heute ist es vor allem die Musik, wie vor der Pause steht Michael Boder am Dirigentenpult, die Neumeiers Choreografie von 1972 antreibt. Nikisha Fogo zeigt sich im kräfteraubenden Schlusssolo eher gebremst, dafür brillieren Sveva Gargiulo und Géraud Wielick in ihrem Debüt des Pas de deux. Wielick konnte schon als Joseph in Neumeiers „Josephs Legende“ überzeugen und kann auch die Halbsolistin Gargiulo, die nicht nur in Trevo Haydens „Double Date“ ihre Taktsicherheit bewiesen hat, mitreißen. Auch in Neumeiers „Sacre“ waren zahlreiche Rollendebütant*innen zu sehen. Wenn das Zusammenrotten und Auseinanderstreben, das Kämpfen und Friedenschließen dem Chaos nahe gekommen ist, dann liegt das sicher an Neumeiers Vorstellung einer sinnlosen Revolution. Man könnte dem scheinbar nackt tanzenden Ensemble getrost gelbe Westen anziehen.
Aus dem Repertoire: „Le Pavillon d’Armide“ / „Le Sacre“, zwei Ballette von John Neumeier. Musik: Nikolai Tscherepnin / Igor Strawinski Dirigent: Michael Boder. 16. März 2019, Wiener Staatsballett in der Staatsoper.
In dieser Besetzung noch am 20. März zu sehen.
Zwei weitere Vorstellungen: 26. und 28. März 2019.
Fotos: Ashley Taylor, © Wiener Staatsballett / Ashley Taylor. Das Foto von Nina Tonoli stammt von Marie Breuilles.