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netzzeit: „Gestochen und weg“ im Dschungel

Bunte Träume im langen Schlaf. © Markus Wintersberger

netzzeit, seit vielen Jahren bekannt für ihre unkonventionellen Musiktheaterprojekte mit immer neuen Kooperationspartner*innen, befragt in ihrer aktuellen Musikperformance für junges Publikum (14+), die die Wiener Theaterformation in Kooperation mit Wien Modern und Dschungel Wien realisiert, nach den vieltönigen und vielfarbigen Welten, die hinter einem Märchen stehen.

Sprecher Christian Reiner; Musikerinnen Doris Nicoletti, Sonja Leipold. ©  Nurith Wagner StraussGemeinsam mit der Komponistin Elisabeth Schimana und der Autorin Ann Cotten haben sich Michael Scheidl (künstlerische Leitung), Nora Scheidl (Raum) und Markus Wintersberger (VR-Projektionen) auf die Suche nach neuen Klang- und Bildwelten begeben, die eine vielschichte und dystopische Relektüre des Grimm'schen Märchenklassikers Dornröschen auf musikalischer, visueller und textlicher Ebene entstehen lassen. Die von Schimana gesammelten field recordings aus unterschiedlichen Teilen der Welt ‒ Natur- und Tieraufnahmen ebenso wie der „Sound“ digitaler Nadelstiche, von Webstühlen, Maschinen und Zügen ‒ wurden von den vier wunderbar lustvoll hinter weißen Gaze-Bahnen auf zwei Seiten des in großen Teilen mit rotweißem Flokati ausgelegten Raumes agierenden Musikerinnen des Ensembles airborne extended für die von ihnen gespielten historischen Instrumente – Virginal und Spinettino, Paetzold, Block- und Querflöten sowie Harfe – neu interpretiert und von Schimana in eine finale Klangpartitur gefasst. Schlafender Erzähler mit VR-Brille; auch Harfinistin ist in Schlaf gesunken. ©  Nurith Wagner Strauss

Ann Cotten schreibt auf der Textebene das Märchen, das zu Beginn der 50-minütigen Performance in einer Kurzversion des Urtextes von Sonja Kreibich vorgelesen wird, als aufbegehrende Vision einer pubertierenden jungen Frau von heute weiter. Thematisiert werden dabei die Ängste des Mädchens zwischen Kindheit und Frausein, persönliche, aber auch gesellschaftliche Konfliktsituationen, Träume und Begehren. Wann wird man die Kindheit, die Mutter und mit ihr das Kind-sein-Müssen endlich los; warum sind Sehnsüchte wie Süchte und werden verboten, und warum dieses Blut und dieses harte Pochen des eigenen Kopf-Körpers auf Selbstbestimmung – so klopft, zirpt, hämmert und kratzt es im Hirn der Mädchens, dessen virtueller Dialog (dargestellt von einem männlichen „Erzähler“, Christian Reiner, barfuß und im Anzug) mit der Mutter und der Welt einer endlosen Vibration inmitten der Unruhen der Evolution, der großen wie der persönlichen, gleicht. Jeder Ton des Sprechers wird von diesem selbst mit einem eigenen Körperkommentar versehen, der sich im Dialog mit den Musikerinnen fast zu einem eigenen Instrument verwandelt.

Das Instrument des eigenen Sprechens durch den Körper, verbal und mit jeder seiner Gesten, und die meist bis auf wenige wiederkehrende Geräusche reduzierten musikalischen Phrasen der Komposition verbinden sich zu einem nahezu touretteartigen Tänzeln zwischen Märchen, Albtraum und Utopie/Dystopie.

Erzähler Reiner, Harfinistin Žerdin. ©  Nurith Wagner StraussDer hundertjährige Schlaf des Mädchens nimmt in dieser knapp einstündigen Performance im großen Saal des Dschungel Wien die Form einer an Halluzinationen und Rauschzustände erinnernden 360°-Virtual-Reality-Installationen an. Deren Bild- und Soundmaterial basiert auf einer Forschungsreise der Komponistin nach Zealandia; die Projektion wird von Reiner, mit einer VR-Brille ausgestattet und am Boden liegend, durch die kleinsten Bewegungen seines Kopfes gesteuert. Der farbenreiche, dramaturgisch jedoch leider zu lange Traum erzählt vom Ende der Welt. Oder von ihrem Anfang. Auch wenn die Vögel und Bienen im „wahren Leben“ zuerst sterben werden – hier sind sie die Letzten, die das schlafende Mädchen noch sieht. Und vor allem hört. Es dreht und fliegt das Bild, Webstuhl und Nadel klingen nach Urwald und Urzeit.

„Hundert Jahre Schlaf – ein Geschenk?“: eine Nadel und ein Verschwinden, ob für einen Moment, für 100 Jahre oder für die Ewigkeit. Cotten und Schimana fragen in Gestochen und weg auch danach, ob dieser lange Schlaf, an dessen Ende die „Rettung“ durch den Kuss eines Mannes steht, wirklich die ersehnte Erlösung von den Unruhen des Erwachsenwerdens ist. Ist es ein „Geschenk“ oder ein Fluch, diese Schlaf-Landschaften zwischen Leben, Tod und noch einmal Leben wuchern zu sehen?Lange Reise durch bunte Träume © Nurith Wagner Strauss

Am Ende bleibt die Antwort offen, ob der Traum vom flirrenden Ende der Kindheit ein schöner oder ein gefährlicher gewesen sein wird. Der Kuss des Patriachats markiert das Erwachsenwerden, das den Schlaf beendet und die Sehnsucht nach Ruhe und „Produktionslosigkeit“ erneut in Bewegung setzt. „Ich bin, was ich will. Der Rest ist kollateral“, sagt der Erzähler am Ende des Abends, zugleich selbstbewusst und zerbrechlich klein geworden. Was bleibt, sind das dunkle und fragende Zucken und Zirpen, trotz aller heller Farbtonwelten.

netzzeit & Wien Modern: Gestochen und weg, Uraufführung
Konzept, Musik: Elisabeth Schimana; Text: Ann Cotten; VR-Projektionen: Markus Wintersberger; Airborne Extended: Sonja Leipold (Virginal, Spinettino), Caroline Mayrhofer (Blockflöten, Paetzold), Doris Nicoletti (Querflöten), Tina Žerdin (Harfe); Erzähler: Christian Reiner; Raum: Nora Scheidl; künstlerische Leitung: Michael Scheidl; Produktion: netzzeit in Kooperation mit Dschungel Wien.