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kunststoff: „Und die Erde ist doch eine Scheibe“

kunststoff im Jahr 2028. © Bernhard Wolf

Im Dschungel, dem Wiener Theaterhaus für junges Publikum, hatte bereits im April 2018 die neue Produktion des jungen österreichischen Performancekollektivs kunststoff rund um Christina Aksoy, Waltraud Brauner, Raffaela Gras und Stefanie Sternig Premiere. Nun hat „Und die Erde ist doch eine Scheibe“ bereits seine erste Wiederaufnahme, im Juni 2018 folgen weitere Vorstellungen. Das Stück ist ab 8 Jahren angesetzt. Das ist ob der Thematik mutig, geht aber auch an den Vormittagsterminen für Schüler*innen sehr gut auf: Der bisherige Erfolg der klug konzipierten und auch für die jüngeren Besucher*innen unterhaltsam und kurzweilig auf die Bühne gebrachten Produktion verspricht weitere Wiederaufnahmen für den Herbst.


Lost in your own „Iris“.
Kontakt funktioniert nur noch durch die gläserne Platte.  © Bernhard Wolf
Wir schreiben das Jahr 2028. Die Welt, die wir, die analogen Menschen von heute, sie noch kennen, gibt es schon lange nicht mehr. Die vier Tänzerinnen, die zu Beginn des knapp 50-minütigen Tanzstückes eine Art Schnellratequiz zu auf die Wand projizierten Videoschnipseln (beeindruckende Visuals von Anita Brunnauer alias „nita.“) über die Welt von einst und heute spielen, sind auch nicht mehr die jungen Frauen, die wir heute noch kennen. Sie werden, wie der Rest der Menschheit, angeleitet von „programmierten persönlichen Assistent*innen“, die sich in ihren Augen befinden und die Welt mit ihnen – oder besser: vor ihnen und vor allem für sie wahrnehmen. „Iris“, so heißt die alterslose digitale Mitarbeiterin, erkennt alles, versteht alles und entscheidet auch alles: was man trägt. Was man isst („Iris hat gerade eine Pizza bestellt.“) und wann man zu trinken hat („Es ist Zeit, Wasser zu trinken. Achte auf den Wasserhaushalt!“).

„Iris weiß alles besser.“

Das Virus der Fremdbestimmung grassiert.  © Bernhardw Wolf Wir haben alle Verantwortung an „Iris“ abgegeben. Uns wird gesagt, was wir zu sehen, zu hören, zu lesen, zu denken und zu fühlen haben. Wen wir lieben – „Like!“ – und was wir hassen („Hate!“) sollen. Zu was wir tanzen wollen, und was wir nicht zu wissen brauchen. „Es ist besser, nicht alles zu wissen“, sagt uns „Iris“. Sie begreift die Welt für uns, und die Welt ist nicht mehr ohne sie. Das merkt man nur zu schmerzhaft, wenn Iris einmal durch einen Virus ausgeschaltet wird. Dann werden aus den fremdbestimmten „modernen“ Menschen hilflose Wesen, die sich im Raum nicht mehr zurechtfinden. Da helfen auch die dauerproduzierten und ins mediale Universum geschickten „Selfies“ nicht mehr und nicht die aus Plexiglas produzierten „Kontaktflächen“, die, manchmal als Spiegel, manchmal als Tanzpartner, wenn nötig auch als Schutzschild und wärmende Bettdecke, zum dialogischen Partner in der durchdigitalisierten Einsamkeit werden.

„Virus. „Virus. Virus.“
Den vier sehr unterschiedlichen, einander hervorragend ergänzenden Tänzerinnen gelingt es mit viel sympathischer Spielenergie, immer wieder neue, auch für ein junges Publikum zugängliche choreografische Bilder für diese doch recht dystopische Weltbeschreibung zu finden. Gleich zu Beginn, wenn sich „Iris“ uns vorstellt und uns ihre Macht nur zu anschaulich deutlich macht, wird wunderbar wild zu „In the eye of the Tiger“ getanzt, und auch wenn die Jüngsten die feine Retroironie der von Peter Plos hervorragend gestalteten Soundebene wohl nicht verstehen mögen, lässt es uns, die Vorsmartphoneselfieinstagramundcogeneration, für die die Performance nicht minder viel zum Nachdenken in sich birgt als für die „digital natives“ an unserer Seite, schmunzeln. Choreografische Bilder einer dsystopischen Weltbeschreibung. © Bernhard Wolf
„I will survive“, schnurrt es zwischen Elektro- und Technobeat aus den unsichtbaren Wänden einer durchtechnologisierten Welt. Dann bricht der Sound ab. Virus. Bilderfluten, Tonchaos. Die fremdgesteuerten Körper geraten in einen Strudel der Überforderungen, bis das „Gerät“ im eigenen Körper endlich zum Stillstand kommt. „Iris, wo bist du?“, rufen die Tänzerinnen in den nun hell erleuchteten, bilder- und soundlosen Raum und suchen die Stimme, die ihnen sagt, das Auge, das für sie sieht.
Keine „Animation“ mehr, keine Anweisungen, kein Dialog mit der eigenen Stimme.


Was tun?
Was tun, wenn die Fremdbestimmung durch einen Virus außer Kraft gesetzt wird? Was passiert, wenn sich die Ressourcen unserer Welt zu Ende neigen, während wir schon mindestens seit einer Generation vergessen haben, selbstbestimmt mit unserer Umwelt umzugehen? Wann haben wir die Verantwortung eigentlich gänzlich abgegeben? Iris lässt uns diese Antwort schuldig. Schon ist sie wieder da, der Virus ist behoben. Für einen Moment kann man sich wieder ganz dem Tanz mit der „Kontaktfläche“ hingeben: „Lass uns fliegen!“
„Und die Erde ist doch eine Scheibe“ ist eine gelungener choreografische Versuchsanordnung über den Verlust des eigenen Ichs in einer Welt der unendlichen Maximierung und der verlorenen Berührungen.

kunststoff: Und die Erde ist doch eine Scheibe; Uraufführung, Performance, 50 Min.; von und mit: Christina Aksoy, Waltraud Brauner, Raffaela Gras, Stefanie Sternig; Visuals: nita; Klangregie, Sound: Peter Plos; Kostüm: Sophie Baumgartner. Gesehen am 
15. Mai 2018, Dschungel Wien.
Nächste Vorstellungen: 16. Mai, 10 und 14.30 Uhr; 4., 5. und 6. Juni 2018, 10 Uhr, weitere Termine in Planung