„Giselle“ – Rollendebüt für Ioanna Avraam
Mit Bravorufen und langanhaltendem Applaus wurde die Solotänzerin Avraam für ihr Debüt in der Titelrolle im romantischen Ballett „Giselle“ bedankt. Als Albrecht war Denys Cherevychko, der sein Rollendebüt bereits im September dieses Jahres mit Nina Poláková gegeben hat, in beiden Akten präsent. Über ein kleines Debüt durfte sich der junge Corpstänzer Scott McKenzie freuen. Mit Natascha Mair zeigte er Allüre und Sprungkraft im berühmten Bauern-Pas-de-deux.
Solotänzerin Ioanna Avraam ist den umgekehrten Weg gegangen: Zuerst brilliert sie in der Titelrolle in Boris Eifmans 1997 uraufgeführtem Ballett „Giselle Rouge“, einer der berühmten Giselles, Olga Spesivtseva, gewidmet. Erinnerungen an das Original hat Eifman eingebaut. Endlich darf Avraam nun auch die echte Giselle, das einfache Bauernmädchen, das sich in Herzog Albrecht verliebt, der sich als Bauer verkleidet hat, tanzen. Eine Freude, ihr zuzusehen.
In Wien ist seit 1993 die Choreografie von Elena Tschernischova im Repertoire. Tschernischova hat bereits im Titel ihrer Choreografie, beruhend auf Jean Coralli, Jules Perrot, Marius Petipa, auf die beiden unterschiedlichen Akte hingewiesen: „Giselle oder die Wilis“. Der Zusatz istwohl im Lauf der Zeit verloren gegangen. Avraam jedenfalls erhielt für ihre Darstellung zweier Wesen, eines von dieser Welt, bodenständig und lebenslustig, Giselle, das andere aus dem Geisterreich schwebend, kalt und unnahbar, eine Wili, verdiente Ovationen.
Begeistert hat mich (und viele andere) Avraam im ersten Akt als fröhliches, ein wenig verschämtes, dann wieder kokett flirtendes Mädchen. Federnd tanzt sie ihre Schrittkombinationen, lässt sich von Partner Cherevychko in den Himmel heben und hopst auf einem Bein über die Bühnendiagonale. Was macht man nicht alles für Blödsinn, wenn man verliebt ist! Natürlich ist dieser „temps levé“ immens schwierig und kräfteraubend für die Tänzerin, weil er nicht zu enden scheint. Doch die verliebte Giselle hüpft unaufhörlich, himmelhoch jauchzend.
Nicht lange. Der eifersüchtige Hilarion (Alexis Forabosco) deckt Albrechts Schwindel auf. Er kann Giselle nicht heiraten, der Standesunterschied ist zu groß. Vorbei mit lustig. Giselle driftet in eine andere Welt ab, im Wahnsinn erinnert sie sich noch kurz an das Liebesglück, bis das Herz bricht. Die noble Gesellschaft schaut beschämt weg und trottet ab. Albrecht und Hilarion stellen ein Heulkonzert zur Schau, die Tränen der Mutter (immer wieder großartig als Darstellerin Franziska Wallner-Hollinek), die den Tod der Tochter vorausgesehen hat und auch weiß, dass sie zum Rachegeist wird, der die Männer zu Tode tanzt, sind echt.
Der Wechsel vom Diesseits in ein beängstigendes Jenseits gelingt Ioanna Avraam beeindruckend. Alles Kindliche, Verträumte fällt von ihr ab, als Megäre rast sie mit Albrechts Schwert im Kreis, starrt in die Ferne, niemand weiß, was sie da sieht, fällt tot zu Boden. Da kann der Applaus nicht sofort aufbranden. Einmal noch hebt sich der Vorhang, das harmonisch tanzende Paar steht zum Fotoshooting in der Bühnenmitte. Dann dürstet mich, zu schnell kam der Tod, zu lieblich und herzerfrischend war der Tanz davor.
Dass Tschernischova († 2015) ein so düsteres Bühnenbild (Ingolf Bruun) im 1. Akt zulässt, der doch eigentlich das fröhliche Dorfleben und als Höhepunkt die Krönung von Giselle zur Winzerkönigin zeigt, finde ich immer von neuem unpassend. Eine unnötige Irritation, wenn die Ausstattung im Gegensatz zur Gefühlswelt der Tänzer*innen steht.
Sei‘s drum, Avraam und Cherevychko lassen sich nicht irritieren, und auch das Bauernpaar quirlt flink und frohgemut im Kreis der Bauernburschen und Winzermädchen, verblüfft mit den Sprüngen und Battements. Von Solotänzerin Natascha Mair war nichts Anderes zu erwarten, sie ist eine wandlungsfähige Tänzerin. Am Vortag hat sie noch in der Volksoper mit Géraud Wielick und Nikisha Fogo als Lehrersfrau in Eno Peçis Version von „Petruschka“ zur Musik von Strawinsky getanzt, und gleich drauf ist sie das romantische Mädchen auf dem Dorf, das sich von den Melodien Adolphe Adams leiten lässt. Als Einspringerin im Grunde. Rikako Shibamoto, die mit McKenzie schon geübt hat, hat das übliche Tänzerschicksal erlitten: Verletzung. McKenzie hat durch die Partnerschaft der Solotänzerin Mair an Vertrauen und Sicherheit gewonnen, man wird ihn sich merken müssen.
Nach der Pause wird es unheimlich. Über die neblige Waldlichtung huscht ein weißer Geist, dann tritt Myrtha, die seelenlose Königin der Willis, auf. Oxana Kiyanenko schafft die Balance zwischen dem unwirklichen Wesen und der Erinnerung an ein früheres Leben im Sonnenschein perfekt. Majestätisch schreitet sie durch den Wald, kennt kein Erbarmen, Hilarion muss tanzen, bis er umfällt, und Albrecht sollte es ebenso gehen. Doch Giselle, selbst zur Wili geworden, hält sie und die Schwestern tanzend so lange vom mörderischen Tun ab, bis die Glocke schlägt und die schönen Geister verschwinden müssen.
Avraam schwebt unwirklich, nicht mehr aus Fleisch und Blut, über den Boden, hat kein Necken und Verstecken im Sinn. Die Augen halb geschlossen, das Gesicht ernst und bleich, zeigt sie auch keine Zuneigung für den am Grab knienden Albrecht. Tote haben keine Gefühle, sind auch kaum zu fassen. Die Rettung des einst Geliebten scheint ihr Pflicht zu sein. Avrrams Technik ist perfekt, doch wer sie kennt, weiß, dass es da noch einiges an feenhaftem Potenzial zu entwickeln gibt. Wir vergessen nicht: Es war ein Debüt.
Cherevychko hat mit den Entrechats im Grand Pas de deux seinen fulminanten Auftritt. Flinke Beine, hohe Sprünge sind seine Spezialität. Gerne hätte ich bei der vom Corps synchron getanzten Arabeske auf einem Bein, insgesamt sind des 24, um Wiederholung gebeten, so schön ist diese Passage. Doch soviel ich weiß, ist der Ruf nach einem Dakapo („bis, bis!“) für das hohe C der Tenöre nicht mehr üblich. Beim Ballett schon lange nicht mehr.
Also ohne Dakapo Bravo gerufen, geklatscht und natürlich das Mobiltelefon hochgehalten, um sich einen kleinen weißen Fleck ins Album zu laden. Schön war’s. Und das Dakapo gilt für das gesamte Ballett – vier Mal ab Ende Mai 2018.
Giselle“ mit Ioanna Avraam in der Titelrolle (Debüt), Denys Cherevychko als Herzog Albrecht, Oxana Kiyanenko als Myrtha, Natascha Mair, Scott McKenzie, das Bauernpaar, 9. Oktober 2017, Wiener Staatsballett in der Staatsoper.
Weitere Vorstellungen: 30. Mai, 2., 4., 6. Juni 2018.