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Hamburg Ballett – John Neumeier: „Nijinsky“

Soldaten außer Rand und Band © Kiran West

Das abendfüllende Ballett„Nijinsky“ hat John Neumeier dem legendären polnisch-russischen Tänzer und Choreografen Vaslaw Nijinsky gewidmet. Bei den 43. Ballett-Tagen in Hamburg stand es zum 135. Mal seit der Premiere im Programmkalender. Ein aufwühlender, ein wenig chaotischer, doch überaus dramatischer Abend. Allerdings – die erwarteten Hochrufe bleiben aus, die Aufnahme durch das deutlich minimierte Publikum – G20 sei’s geklagt! – ist geteilt. Sogar ein einzelnes Buh ist zu hören. Zu verwirrend, zu schwul, zu historisch ungenau ist als Begründung für die ungewöhnliche Zurückhaltung der Applausspenderinnen zu hören. Einig sind sich jedoch die treuen Neumeier-Fans, dass auf höchstem Niveau hervorragend getanzt und gespielt worden ist.

Sei’s drum, John Neumeier, selbst längst Legende der jüngeren Geschichte des Tanzes, beschäftigt sich seit Jugendtagen mit Vaslaw, Superstar, Nijinsky. Der Ausnahmetänzer und Choreograf  hat ihn die Liebe zum Tanz gelehrt, auch wenn Neumeier Nijinsky († 1950 in London) nie live gesehen hat. Als er zur Welt kam, hat der an Schizophrenie leidende Tänzer die Bühne schon lange verlassen. 1919 war sein letzter öffentlicher Auftritt, vor geladenem Publikum in einem Schweizer Hotel, organisiert von seiner Frau Romola.
Alexndr Trusch ist Nijinsky mit allen Fasern, außen wie innen. Alle bilder © Kiran West Aus Neumeiers Auseinandersetzung mit Nijinsky sind drei Ballette entstanden. „Vaslaw“ – eine kleine Skizze des jungen Nijinsky, der die ersten Tanzschritte versucht, träumend, von wichtigen Menschen aus seinem Leben besucht wird – ist bereits 1979 entstanden. 2000 war die Premiere des ausufernden Balletts „Nijinsky“, 2009 hat Neumeier seine Version des 1907 zum ersten Mal gezeigten Balletts von Michail Fokin „Le Pavillon d’Armide“, 1909 ein Triumpf der Balletts Russes in Paris, vorgestellt. Ähnlich gebaut wie „Nijinsky“ beginnt „Le Pavillon“ genau dort, wo „Nijinsky“ endet: Mit der Einweisung des Ausnahmekünstlers in die Psychiatrie.
So wird das abendfüllende Ballett „Nijinsky“ zum Mittelstück der drei nach außen hin chronologisch geordneten Tanzstücke.

Doch Neumeier hat niemals die Absicht gehabt, eine Biografie zu choreografieren, eine historisch getreue Dokumentation tanzen zu lassen. Er beschäftigt sich mit dem Innenleben des Künstlers, dessen Gedanken und Träumen, den Erinnerungen an die wenigen Jahre seines Glanzes. Am besten ist Neumeier das in seiner Kreation des „Pavillon d’Armide“ gelungen. Die Figuren und Rollen, die lebhaften Erinnerungen, in die der Geisteskranke sich flüchtet, sind gegenüber dem Tohuwabohu in „Nijinsky“ reduziert und die Vergangenheit ist von der Gegenwart (im Garten der Anstalt) sauber getrennt. Neumeier hat sich in „Le Pavillon“ weise beschränkt, verwendet die Originalmusik von Alexander Tscherepnin, hält sich an die Formel von der Einheit des Ortes und der Zeit (Nijinksy träumt im Sanatorium) und hat nicht den Anspruch, alles zu erzählen, was er weiß. Der Goldene Sklave aus "Scheherazade": karen Azatyan Dennoch erhöht es den Genuss beider Ballette, wenn man von Nijinskys Lebenslauf und seinen Verhältnissen etwas mehr weiß.

Im großen Nijinsky-Ballett treten nicht nur seine Rollen und Figuren seiner Choreografien auf, sondern auch die Familie. Besonders herausragend hat Neumeier die Rolle des älteren Bruders, Stanislaw, gestaltet. Der erst 25jährige Solotänzer aus Barcelona, Aleix Martinez ist großartig im Leiden und Sterben des schon in jungen Jahren an Schizophrenie Erkrankten, der auch als Alter Ego Vaslaws gedeutet werden kann. Die Titelrolle wird vom jungenhaft wirkenden Ersten Solisten Alexandre Trusch dargestellt. Phänomenal. Mit hohen Sprüngen und ausdrucksvoller Mimik zieht er auch das Publikum in das Wechselbad der Gefühle, die den Tänzer und Menschen beuteln. Liebenswürdig jungenhaft, grausam aggressiv, qualvoll zerrissen – Trusch hat in Armen, Beinen und im Kopf eine reiche Gefühlspalette zur Verfügung. Schön anzusehen ist er im Tanz und auch im stillen Innehalten. Einer der effektvollen Höhepunkte im ersten Teil ist der erotische Pas de trois von Nijinsky und seiner Frau Romola mit dem Faun (Karen Azatyan). Als Goldener Sklave schmiegt sich Azatyan in der Rolle Nijinkys lasziv an Diaghilew. Da mag man die Einwände mancher Zuschauerinnen schon verstehen.

Nijinsky mit Ehefrau Romola im Clinch (Trusch, Carolina Agüero)Patricia Friza entzückt als Bronislava Nijjinska, der Schwester des Künstlers, selbst eine Tänzerin und spätere Choreografin. Ivan Urban, der immer noch höchst agile Sonderdarsteller, ist ein verliebter, schwer beleidigter Diaghilew. Lloyd Riggins begeistert als Petruschka, Karen Azatyan als sprunggewaltiger Goldener Sklave im Ballett „Sheherazade“, das mit Nikolaj Rimskij-Korsakows Komposition die musikalische und tänzerische Basis des ersten Aktes bildet.

Im zweiten Teil liefert Dimitri Schostakowitsch mit seiner 1957 uraufgeführten Sinfonie Nr. 11, in Erinnerung an den „Petersburger Blutsonntag, „Das Jahr 1905“ benannt, den lautstarken musikalischen Part. Junge Soldaten in kurzen Höschen und offenen Militärjacken tollen (im Gegensatz zur grausigen Musik, fröhlich) über die Bühne, Nijinsky erscheint auf der Empore des Ballsaales und verkündet: „Ich werde euch den Krieg tanzen, mit seinem Leid, seiner Zerstörung, seinem Tod.“ Danach applaudieren die Gäste, der Tänzer breitet die Arme auf den zum Kreuz gelegten Stoffbahnen aus: „Dies ist meine Hochzeit mit Gott“. Ehefrau Romola (elegant und zurückhaltend: Carolina Agüero) blickt hilfesuchend den Arzt an. Nijinsky versinkt im geistigen Dämmerzustand. Tanzt nie mehr. Intensiv: Lloyd Riggins als Petruschka

Ein Aperçu: Bei der die 43. Ballett-Tage abschließenden Nijinsky-Gala am 16. Juli 2917 tanzen in den Ausschnitten aus „Le Pavillon d’Armide“ von John Neumeier Wiener Solistinnen und Solisten mit dem Hamburger Ensemble: Solotänzer Mihail Sosnovschi ist der 30-jährige Nijinsky, eine Rolle, für die er in Wien mit tosendem Applaus und so mancher Träne in den Augen bedankt worden ist. Die Tanzpartnerinnen Nijinskys auf der Bühne, Tamara Karsawina und Alexandra Baldina, werden von Maria Yakovleva, Erste Solotänzerin des Wiener Staatsballetts, und Solotänzerin Nina Tonoli verkörpert; Denys Cherevychko ist Vaslaw, der junge Nijinsky, den er auch für das Ballett „Vaslaw“ mit Neumeier einstudiert hat.

John Neumeier: „Nijinsky“, Ballett in zwei Teilen. Bühnenbild und Kostüme unter teilweiser Verwendung der Originalentwürfe von Léon Bakst und Alexandre Benois von Neumeier; Dirigent des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg: Simon Hewett. 135. Vorstellung.
Mit Alexandr Trusch, Carolina Agüero, Patricia Friza, Aleix Martinez, Ivan Urban, Anna Laudere, Dario Franconi, Xue Lin, Leeroy Boone; Lloyd Riggins und dem Ensemble des Hamburg Ballett.