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Hamburg Ballett: „Die kleine Meerjungfrau“

Der Dichter und sein Geschöpf (L. Riggins, S. Azzoni) © Holger Badekow

Zwei Welten, einander fremd, oben die Menschen, unten die Wasserwesen, der Dichter dazwischen. Er gehört zu den einen nicht und nicht zu den anderen. Das Ballett „Die kleine Meerjungfrau“ hat John Neumeier zu des Märchenerzählers Hans Christian Andersen 200. Geburtstag mit dem Königlich Dänischen Ballett geschaffen und 2005 in Kopenhagen uraufgeführt. Zwei Jahre später hat auch das Hamburg Ballett das zauberhafte Tanz-Theaterstück ins Repertoire aufgenommen. Auch bei den Balletttagen 2017 erzählt und betrachtet der Dichter die Nixen und Matrosen, die smarten Offiziere und die Kreuzfahrtgäste samt dem Prinzen mit der  Prinzessin.  Zur Musik von Lera Auerbach tanzen sie die gar traurige Geschichte von der einseitigen Liebe der kleinen Meerjungfrau und ihrem heroischen Verzicht.

Neumeier lässt den Dichter selbst, den Künstler und Schöpfer der Figuren, erzählen. Recht verloren steht er (verkörpert durch den ausdrucksstarken Tänzer Lloyd Riggins) an Deck eines Schiffes, sieht in die Zukunft: Prinz heiratet Prinzessin. So hat er sich das Ende seiner Geschichte ausgedacht. Ein gutes Ende? Der Dichter wendet sich ab, schwingt sich über die Reling und taucht ein in die Wasserwelt.
Dort tummeln sich Nixen, schwarze magische Schatten, der Meerhexer und das Meer, personifiziert durch das Corps de Ballet in Schwimmbewegungen. Neumeier ist, wie so oft, nicht nur Choreograf und Autor, sondern auch Lichtdesigner, Bühnen- und Kostümbildner und versetzt uns durch den schlichten, um so effektvolleren Einsatz von Farbe, Stoffen und Licht direkt auf den Meeresgrund. Unten wogen die Wellen, oben fährt ein beleuchteter Dampfer vorbei, die Matrosen tanzen an Deck, der Dichter pflanzt der kleinen Meerjungfrau die Sehnsucht nach den Menschen ein. Dann kentert das Schiff, die Meerjungfrau zieht den Prinzen an Land, opfert ihre Stimme, um wie ein Menschenkind zu werden. Der Meerhexer:  Karen Azatyan © Kiran West

Silvia Azzoni ist die kleine Meerjungfrau, die dem Meerhexer trotzt und aus Liebe jeden Schmerz auf sich nimmt. Als Herrscher unter Wasser tanzt der Erste Solist Karen Azatyan, in Armenien geboren und seit 2014 im Hamburg Ballett, einen wilden Kraftlackel im Kostüm eines Samurai-Kämpfers. Am Tag davor zeigte er ebensolche Bühnenpräsenz als toter „Muschik“ in Neumeiers neuester Kreation, „Anna Karenina“.

Kann ich die Augen schon seit ihrem ersten Schwimmzug nicht von der kleinen Meerjungfrau wenden, so erobert Silvia Azzoni mit ihren ersten tastenden Schrittchen an Land endgültig die Herzen aller Zuschauerinnen und ihrer dösenden Begleiter. Wenn die kleine Meerjungfrau, ihres an Land unbrauchbaren Fischschwanzes ledig, zu gehen versucht, beginnen meine Füße zu brennen, der Schmerz ist spürbar. So wird aus diesem in feinst abgestimmten Farben (Blau im Wasser, bunt an Bord des Dampfers) gehaltenen Märchenballetts auch ein Ballett über den Tanz selbst. Auch Tänzerinnen / Tänzer sind auf der Bühne in einer anderen Welt, ertragen jeden Schmerz, um dort erfolgreich zu sein. Sie bekommen ihren kargen Lohn durch den Applaus. Die kleine Meerjungfrau bekommt gar nichts, als bemitleidenswertes Häuflein Elend sitzt sie im Rollstuhl, eine enge Kammer wird ihr zugewiesen.
Als sie sieht, wie sehr der Prinz den Aufmarsch seiner Offiziere und Matrosen goutiert, zieht auch sie den Matrosenanzug an, macht sich zum Wurschtel. Frauen sind so. Die kleine Meerjungfrau und der charmante Prinz (Azzoni, Alexandre Riabko) © Holger BadekowDie Gesellschaft lacht sie aus, der Prinz behandelt sie als Dummerchen, zeigt ihr kindische Zaubertricks. Sie nimmt das als Liebeszeichen. Wenn er sie nur anschaut! Doch er hält eine andere für seine Retterin, wählt die Prinzessin. Die kleine Meerjungfrau darf  als Brautjungfer der Hochzeit beiwohnen. Blass und zerbrechlich hinkt sie inmitten der kichernden Schönheiten. Der Dichter sieht, was er angerichtet hat und weiß nur eine Lösung: Sie muss den Prinzen töten, um ihr altes Leben im Kreise der schwimmenden Schwestern zurückzuerhalten. Der Meerhexer drückt ihr das Messer in die Hand, der Dichter schlägt es weg, die kleine Meerjungfrau darf nicht töten, kann nicht töten, sie hat geliebt.

Schon der berühmte dänische Dichter Hans Christian Andersen muss die kleinen Meerjungfrau als Seelenverwandte erkannt haben. Wie sie, war auch er ein Außenseiter, ein Außenseiter, wie es vermutlich jeder Künstler ist. In der romantischen Figur des Dichters, der die beiden einander fremden Welten verbindet, macht Neumeier diese Assoziationen sichtbar, am Ende sogar deutlich. Die kleine Meerjungfrau hat sich selbst besiegt, der Prinz soll mit seiner Prinzessin glücklich werden. Von allen irdischen Zwängen und Leiden befreit, tanzen der Dichter und sein Geschöpf barfuß in eine bessere Welt. Die Sterne blitzen, der Himmel öffnet sich. Sie sind gerettet.

Der tröstliche Schluss: Harmonie unterm Sternenhimmel (Silvia Azzoni Lloyd Riggins ) © Kiran West

So stark ist dieser Abend von der darstellerischen Intensität der Tänzerin Azzoni geprägt, dass das Prinzenpaar völlig marginal erscheint. Alexandre Riabko und Carolina Agüero machen gute Figur, mehr nicht. Viel mehr ist auch über Lera Auerbachs Komposition (in der „Hamburger Fassung“) nicht zu sagen. Der Einsatz eines Theremins sorgt zwar für das nötige geheimnisvolle Rauschen, doch klingt Auerbachs Komposition ziemlich eklektisch, mal nach Schostakowitsch, dann nach Mahler, stört aber nicht weiter.

Bei den sommerlichen Balletttagen in Hamburg ist das Publikum auf Jubel eingestimmt, auf Klatschen und Hochrufe.. Kaum erscheint der Meister in der Kulissengasse,  wird ihm stehend die Ehre erwiesen. Bei den sommerlichen Balletttagen gehört es zum guten Ton, zu toben und vor Glück zu trampeln, das Hamburg Ballett und seineGallionsfigur John Neumeier zu feiern und die unverbrüchliche Liebe zu Füßen zu legen. Wer wollte da nicht mitfeiern!

John Neumeier: „Die kleine Meerjungfrau“, Premiere 1. Juli 2007. Hamburg Ballett.
Gesehen am 6. Juli 2017 im Rahmen der 43. Hamburger Ballett-Tage.
Musik: Lera Auerbach, Choreografie, Inszenierung, Bühnenbild, Kostüme und Lichtkonzept: John Neumeier; Dirigent: Simon Hewett; Philharmonisches Staatsorchester Hamburg, Solovioline: Anton Barakhovsky; Theremin: Lydia Kavina. Getanzt von Lloyd Riggins, Silvia Azzoni, Alexandre Riabko, Carolina Agüero, Karen Azatyan und dem Ensemble.