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John Neumeier: „Anna Karenina“ in Hamburg

Mit seiner neuesten Kreation, „Anna Karenina – Inspiriert von Leo Tolstoi", eröffnete John Neumeier die 43. Hamburger Ballett-Tage. Auch in der Folgevorstellung zeigt sich das Publikum hingerissen, holt den Choreografen immer wieder vor den Vorhang. Strahlend genießt er die mit Bravorufen demonstrierte Liebe. Mit nicht enden wollenden Ovationen werden auch Anna Laudere (Titelrolle) und Edvin Revazov (Wronski) bedacht. Und auch sämtliche anderen Darsteller_innen werden lautstark gefeiert.

„Anna Karenina“ nennt Tolstoi seinen 1877 erschienen achtteiligen Roman; ebenso tituliert Neumeier seine zweiteilige Choreografie, sichert sich jedoch mit dem Zusatz "inspiriert von Tolstoi" gegen mögliche Vergleiche der Handlung ab.  Wie bei Tolstoi geht es auch bei Neumeier eigentlich um drei Familien, vor allem um die Frauen, die mehr oder weniger an der Liebe scheitern. Anna ist bei Neumeier die Frau des Politikers Alexej Karenin, mit dessen Wahlkampfauftritt das Ballett effektvoll eröffnet wird. Ihre Schwägerin, Dolly, kämpft gegen die Untreue ihres Mannes. Stiwa Oblonski, Annas Bruder, wird vom Ersten Solisten Dario Franconi als sorgloser, fescher Schürzenjäger getanzt. Das Paar hat fünf Kinder, doch Dolly will die Familie verlassen, bittet Anna um Unterstützung. Das unglückliche Ehepaar Karenin (Anna Laudere, Ivan Urban) alle Bilder: © Kiran WestAnna, die selbst einen Sohn hat, überredet Dolly zu bleiben. Und dann ist da noch Dollys Schwester, Kitty, die in den Grafen Alexej Wronski verliebt ist, vom Gutsbesitzer Konstantin Lewin verehrt wird, diesen jedoch abweist. Allerdings zeigt Wronski kein tiefergehendes Interesse an der junge Kitty, tändelt ein wenig und wendet sich dann anderen zu. Von Heiratsabsichten keine Spur. Kitty erleidet einen Nervenzusammenbruch, verbringt eine Zeit in der Psychiatrie, nimmt dann den Antrag Lewins an, um mit ihm und einem Leben auf dem Land glücklich zu sein.

Anders als Boris Eifman, der sich in seinem großartigen Ballett gleichen Titels (Volksoper Wien, 2006) nur auf das Dreieck Anna – Karenin – Wronski konzentriert und die Erzählung der Ereignisse dem Corps de Ballet in eindrucksvollen Szenen überlässt, reiht Neumeier eine Szene an die andere, schneidet die Bilder mitunter ineinander, stellt mal Dolly, dann wieder Kitty in den Vordergrund und akzentuiert das Verhältnis Anna – Wronski nur durch die beiden phänomenalen Stars des Hamburg Balletts. Anna verliebt in Wronski (Anna Laudere / Edvin Revazov)In den Pas de deux von Anna Laudere und Edvin Revazov (sein umwerfender Tadzio in Neumeiers Ballett „Tod in Venedig schimmert immer noch durch den leichtlebigen, nur in seinen muskulösen Körper wirklich verliebten Wronski) ist eine überaus reiche Gefühlspalette sichtbar. Die Wandlung Annas von der fügsamen Politikersgattin zur bedingungslos Liebenden, von der unglücklich Gefangenen zur leidenschaftlichen Geliebten, gehört zu den Höhepunkten des dreistündigen Abends. Dass das Paar Laudere / Revazov trotz der von Neumeier vorgesehenen Schwierigkeiten in den Pas de deux besonders harmonisch miteinander tanzt und glühende Erotik vermittelt, ist verständlich: Anna und Edvin sind auch fern der Bühne ein Paar. Lewin (Aleix Martínez) sehnt sich nach Kitty, die aber träumt noch von Wronski.

Neumeier wählt seine Musik (dirigiert von Simon Hewett) bedachtsam aus: Romantisches von Peter Tschaikowsky, Aufwühlendes, Schrilles von Alfred Schnittke, Ländlich-Sittliches von Cat Stevens. Um den Kontrast zwischen heilem Landleben und den wirren Beziehungen der dekadenten Moskauer Gesellschaft balanciert Neumeier mit den Bildern auf dem Land hart an der Grenze zum Kitsch. Lewin (Aleix Martinez, wunderbar in seiner ungelenken Schüchternheit, seiner liebevollen Treue) räkelt sich auf dem Heuhaufen, Cat Stevens singt „Moonshadow“. Lewin und gut 25 Schnitter treten zum Sensentanz im Gegenlicht an, Cat Stevens singt „Morning has broken“. Kitty fährt mit dem bunt lackierten Traktor vor. Das gemeinsame Kind ist geboren – in der Landluft gesundet die Familie.

Anna (Laudere) bringt das Kind von Wronski zur Welt. Die Tochter wird Anna genannt und bleibt bei Karenin.Bei Tolstoi spricht Anna immer wieder von ihrem Sohn, dem „kleinen Sergei“, um dessentwillen sie ihren Mann nicht verlassen will. Neumeier hat die Rolle mit dem jungen spanischen Tänzer, noch ein Aspirant, María Huguet einstudiert. Sergei / Serjoscha ist also ein Teenager und das wandelt die spielerischen Liebesbezeugungen zwischen Mutter und Sohn in ein nahezu ödipales Verhältnis. Weniger liebevoll, fast peinlich.

Der häufige Szenenwechsel mit dauerndem Drehen und Verschieben der Kulissen stört die Konzentration, zumal keine stringente Geschichte erzählt wird, sondern in Solos und Pas de deux Schlaglichter auf Gedanken, Träume und Gefühle geworfen werden. So träumt Anna immer wieder von einem Arbeiter, dessen Unfalltod im Bahnhof, wo sie Wronski begegnet ist, sie miterleben musste. Der (tote) Muschik (Karen Azatyan) taucht unverhofft auf, irritiert Anna und auch Wronski. Sie stellt sich diesen Träumen, er verschwindet wieder mal ins Fitness Center. Manche Szenen sind ohne Anleitung kaum verständlich, andere berühren mich tief. Emilie Mazon ist Kitty , verzweifelt in der Klinik. Etwa Lewins Besuch bei Kitty in der Anstalt (Cat Stevens sing „Sad Lisa“). Die noch junge Hamburgerin Emilie Mazon zeigt sowohl als muntere, verliebte Ballbesucherin wie auch als verzweifelt und verstört Leidende, und endlich als fröhliche Landfrau im blauen Overall, was in ihr steckt. Neumeier wird dieses Potential entwickeln. Die Rolle der Dolly hat Neumeier der aus Wien kommende Solistin des Hamburg Ballett Patricia Friza auf den Leib choreografiert. Perfekt macht sie klar, was in einer immer wieder betrogenen, vernachlässigten Ehefrau vorgeht. Sie will, doch sie kann nicht gehen – mit ihren Tentakeln halten sie die Kinder gefangen. Dolly findet sich ab, Stiwa macht weiter, diesmal ist es eine Ballettratte, die er umgarnt.

So ist das Ballett mit dem Tod Annas (nicht auf dem Bahnhof, sie lässt sich einfach in ein schwarzes Loch fallen) und der Bestürzung Wronskis nicht zu Ende. Im Epilog wird gezeigt, dass das Leben weitergeht. Lewin tröstet Serjoscha, Karenin hat sich schon längst von seiner Assistentin (Mayo Arii) trösten lassen, die Gesellschaft tanzt und amüsiert sich im Theater.

Das Ehepaar Karenin ringt um die Familie. (Laudere, Urban)Als Karenin ist der „Sonderdarsteller“ Ivan Urban, von 1998 bis 2016 war er Erster Solist im Hamburg Ballett (Armand in der „Kameliendame“, Diaghilev in „Nijinsky“, Peer Gynt und Jago in „Othello“), wenige Wochen vor der Uraufführung für den verletzten Carsten Jung eingesprungen. Er ist nicht so verkorkst und unnahbar, wie Eifman Karenin zeichnet, sondern ein Mensch, der sich verbiegt, um nach oben zu gelangen, dann aber die Einsamkeit an der Spitze spüren muss. Der tote Muschik erscheint Anna immer wieder im Traum (Karen Azatyan, Laudere)Ob er seine Frau wirklich liebt? Er braucht sie vor allem und benützt sie. Bevor sie die unheilvolle Begegnung mit Wronski hat, findet sie das auch in Ordnung. Im 19. Jahrhundert entspricht das der herrschenden Moral. Neumeier entkoppelt die Familiengeschichten aber aus dem historisch-gesellschaftlichen Umfeld, erzählt sie als Ereignisse von heute (wenn Anna telefoniert, läutet das Mobiltelefon) und nimmt ihr damit die Frage, was erlaubt ist und was nicht. Heutzutage, da Politiker ohne Scheu mit ihren Geliebten auftreten, wohl alles.
Neumeier hat selbst gesagt: „Diesen Roman kann man nicht vertanzen“, irgendwie hat er es dennoch versucht und zu viel des Guten gewollt. Was die Begeisterung seines Publikums und der lokalen Kritiker/innen nicht gedämpft hat.

John Neumeier: „Anna Karenina – Inspiriert von Leo Tolstoi“, Uraufführung zur Eröffnung der 43. Hamburger Ballett-Tage, 2. Juli 2017, gesehen am 4. Juli 2017.
Dirigent: Simon Hewett. Kostüme, Bühnenbild, Licht: John Neumeier. Die großartigen Kreationen für Anna Karenina stammen von AKRIS Albert Kriemler.
In den Hauptrollen: Anna Laudere, Edvin Revazov, Aleix Martínez, Emilie Mazon, Ivan Urban, Karen Azatyan, Patricia Friza, Dario Franconi, Mayo Arii, Marià Huguet.