Mei Hong Lin: „Die kleine Meerjungfrau“ in Linz
Zwei Tanzstücke fasst die Linzer Ballettchefin Mei Hong Lin unter dem Titel „Die kleine Meerjungfrau“ zusammen. Franz Schrekers für den Tanz geschriebene kurze Komposition „Geburtstag der Infantin“ wird mit Alexander von Zemlinskys symphonischer Dichtung „Die Seejungfrau“ kombiniert. Im Linzer Musiktheater am Volksgarten reagiert das Publikum hellauf begeistert.
Die beiden Kunstmärchen sind es, die es neben der Musik der Choreografin Mei Hong Lin angetan haben. Oscar Wildes Erzählung vom verwachsenen Zwerg, dessen Selbstbild so gar nicht seinem Aussehen, das die Umwelt erschreckt oder bestenfalls zum Lachen bringt, entspricht. Er wird von den Höflingen der kindlichen Infantin zum Geburtstag geschenkt und ist für sie nicht mehr als ein Spielzeug. Er aber entbrennt vor Liebe und stirbt an gebrochenem Herzen, als er sich, allein gelassen, im Spiegel erblickt.
Dem „Geburtstag der Infantin“ ist die tänzerische Interpretation von Hans Christian Andersens auf der Sage von Undine beruhendes Märchen „Die kleine Meerjungfrau“ zur Musik Franz Schrekers gegenübergestellt. Auch die Nixe leidet an unerwiderten Liebe. Sie sehnt sich nach dem Prinzen und dem Leben als Mensch. Doch der Prinz gehört nicht ihrer Welt, dem Wasser, an. Da ihre schmerzhafte Verwandlung in ein Menschenwesen, das zwar stumm ist, aber den Fischschwanz gegen zwei Beine eingetauscht hat, nicht umkehrbar ist, bliebe als rettende Lösung, den Prinzen, der eine andere heiratet, zu töten. Doch schon bei Andersen (übrigens ich in Antonin Dvoraks Oper „Rusalka“) bringt die Verschmähte das nicht übers Herz. Dennoch wird sie nicht sterben, wie vorausgesagt. Als Luftgeist kann sie weiterleben, durch gute Taten auch eine unsterbliche (menschliche) Seele erlangen.
Die beiden Werke österreichischer Komponisten, die von den Nationalsozialisten als „entartet“ verfemt worden sind, zur Aufführung zu bringen, ist allein schon Grund genug, Mei Hong Lins „Tanzstück“ zu empfehlen. Sie sieht beide Choreografien als ein Stück und spricht von einer „Inhaltscollage mit Texten von…“ (Oscar Wilde, beziehungsweise Hans Christian Andersen).
Ein weiterer Grund ist die Ausstattung von Dirk Hofacker mit prächtigen Kostümen und in Ausnutzung der gesamten modernen Bühnentechnik, die das Linzer Musiktheater am Volksgarten zu bieten hat. Ist der lehre Palast der Infantin durch einen goldenen Baum, der sich mit Früchten und Blüten bedeckt und die grellen orangefarbenen Röcke der kichernden Gespielinnen des Geburtstagskindes (Chiung-Yao Chiu) gekennzeichnet, so verwandelt Hofacker die Welt der Meerjungfrau in eine magische, glitzernde Welt in der Videoeinspielungen und ein bewegliches Gestänge die Wellen sichtbar machen und die Nixen sich so anmutig bewegen, dass die Rheintöchter vor Neid grün werden müssen. Ein Wall trennt die zwei Welten beider Schaupltäze, lädt zum Sitzen, Gleiten und Rutschen ein. Rie Akiyama ist die zierliche Meerjungfrau, die sich unter ihresgleichen gar nicht wohl fühlt und nach einer menschlichen Seele sehnt – eine Außenseiterin wie der Zwerg (energiegeladen und akrobatisch: Pavel Povraznik) der Infantin.
Keine Frage, dass beide Komponisten (und, wie die Literaturhistorie längst belegt hat, auch die beiden Märchendichter) aus eigenem inneren Erleben schöpfen. Übrigens hat sich auch Zemlinksky mit Wildes traurigem Märchen “Der Geburtstag der Infantin“ befasst: „Der Zwerg“, uraufgeführt 1922, wurde 1990 vom damaligen Direktor der Wiener Volksoper, Eberhard Wächter, ins Repertoire genommen. Im Februar 2017 hat Zemlinskys Einakter (gemeinsam mit einem von Werk Luigi Dalapiccola) an der Oper Graz Premiere.
Bei der Premiere des zweiteiligen „Tanzstücks“ hat Daniel Linton-France des ausgezeichnete Bruckner Orchester dirigiert. In der gesehenen Vorstellung war Marc Reibel am Pult. Zemlinksy rauschhafte, glitzernde Klänge mit Meeresrausche, dem beklemmenden Auftritt der Meereshexe (Shang-Jen Yuan) und dem in Töne gesetzten unsagbaren Schmerz der Meerjungfrau liegen ihm offenbar mehr als die durchsichtige von Dissonanzen unterlegte Musik Schrekers. Der Kontrast zwischen der herzlosen Infantin, die für den Herztod des Zwerges nur einen einzigen Kommentar hat –„In Zukunft sollen die, die mit mir spielen, keine Herzen haben“ – und dem Zwerg, der von seiner Andersartigkeit keine Ahnung hat, kommt in der Musik nicht so recht, lediglich im Grotesktanz des Zwerges, zum Ausdruck.
Außenseiter, ob es unterdrückte Frauen oder “phantastische kleine Ungetüme“ (Wilde) sind, interessieren Mei Hong Lin schon immer. So herzzerreißend tollpatschig die Meerjungfrau auf ihren zwei neuen Beinen auch stolpert – die Tanzsprache ist, wie auch das fröhliche Gehopse der jungen Geburtstagsgesellschaft, bekannt. Mei Hong Lin, vergisst nie, dass das Publikum immer auch oder vor allem unterhalten werden will. Der heftige Applaus gibt ihr Recht.
„Die kleine Meerjungfrau“, Tanzstück von Mei Hong Lin. Premiere 15. Oktober 2016. Gesehen am 5. November 2016, Musiktheater Linz.
Nächste Vorstellungen: 7., 11., 13., 18. November 2016.