Hamburg Ballett: „Duse“ von John Neumeier
Die „Choreografische Phantasien über Eleonora Duse“, uraufgeführt im Dezember 2015, bildeten einen der Höhepunkt der 42. Hamburger Ballett-Tage in der Staatsoper. Anders als bei der Premiere, als die Publikumsreaktionen recht unterschiedlich waren, wurde „Duse“ im Juli begeistert aufgenommen. Alessandra Ferri, für die Neumeier das Ballett kreiert hat, ist, wenn auch ohne Worte, die große Tragödin, ist die Duse.
Wie sehr Eleonora Duse (1858–1924) ihr Publikum und die zahlreichen Anbeter faszinierte und von diesen vereinnahmt wurde, steht im Mittelpunkt von Neumeiers „choreografischen Phantasien“. Mit dem einzigen Film, „Cenere“, der, mit der Schauspielerin in einer Mutterrolle, existiert, beginnt die getanzte Szenenfolge von Begegnungen mit Männern, Frauen und zwischen geschaltetem Bühnengeschehen. Die alternde Duse sieht sich diesen zerkratzen Film an und kramt in ihren Erinnerungen. Ferri, Italienerin wie die Duse, ist keine junge Ballerina mehr, sondern eine reife Frau, die nicht nur mit jeder Geste, jedem Muskel sondern auch mit dem wunderbaren Mienenspiel ganz in der Rolle aufgeht. Wie der Duse selbst nachgesagt wird, dass sie Leid gespürt, wenn sie Leid gespielt hat, so scheint es auch ihrer tanzenden Darstellerin zu gehen.
Neumeier zeigt die erste Begegnung mit dem Soldaten Luciano Nicastro (Alexandr Trusch), der ihre weiße Rosen überreicht und an dessen Sterbebett, sie später stehen wird. Sarah Bernhardt, die große Rivalin, tänzelt affektiert in rosa Federboa auf und lässt sich feiern (Silvia Azzoni), auch der Freundschaft mit der Tanzrevolutionärin Isadora Duncan (Anna Laudere, barfüßig tanzend) samt dem Unglück, das der Tänzerin ertragen musste, ist eine Szene gewidmet. Duncans beide Kinder ertranken in der Seine, sie selbst konnte danach nicht mehr auftreten und starb eines ebenso grausigen Todes: Bei einer Fahrt im Cabrio wickelte sich ihr langer Schal um einen Ast und erdrosselte sie. Dies aber deutet Neumeier nur an, das blassblaue Tuch, unter dem die Kinder sterben, wickelt sich Duses Mentor Arrigo Boito (Carsten Jung) um den Leib.
Als Tänzer wie als Darsteller des selbstverliebten Dichters und Frauenliebhabers Gabriele d’Annunzio beeindruckt Karen Azatyan (der Armenier war bis 2014 Solist beim Bayerischen Staatsballett und ist seitdem Solist in Hamburg). Nicht nur er ist höchst lebendig und lebensnah. Neumeier gelingt es immer wieder Menschen aus Fleisch und Blut auf der Bühne zu bewegen und lässt nicht nur die Duse in die Vergangenheit schauen, sondern blickt auch auf sein eigenes Werk zurück. In fließenden Übergängen schlüpfen die Männer mit der Duse in Theaterrollen. Oft, etwa bei Goldoni, geht aus auf der Bühne in der Mitte etwas zu bunt zu. Fließend geht auch die Sterbeszene aus „Romeo und Julia“ in das Sterben auf dem Schlachtfeld des Ersten Weltkrieges über. In der grauen Bühnenwand im Hintergrund öffnet sich ein Tor und gibt den Blick frei. So wechselt getanzte und von Neumeier fantasierte Realität mit dem gespielten Geschehen auf der Theater- und Ballettbühne.
Mit Duses Begräbnis und einem Filmausschnitt von diesem in den USA und Italien stattgefundenen Ereignis, bei dem die tote Schauspielerin noch einmal von der Öffentlichkeit vereinnahmt wird, könnte das Ballett nach gut anderthalb Stunden sein Ende haben.
Doch Neumeier fantasiert weiter, öffnet nach der Pause den Himmel über dem hell ausgeleuchteten Bühnenraum und zeigt die Duse (im Trikot anfangs wie als Malerei stilisiert auf einem Sessel sitzend) noch einmal mit all „ihren“ Männern.
Jetzt ist alles geklärt, die Herren (Karen Azatyan, Alexandr Trusch, Carsten Jung, und Marc Jubete als Publikum) in weißen langen Hosen verschränken ihre Hände, haben die Duse empor zu Arvo Pärts Komposition „Fratres“. Noch einmal ein Rückgriff auf das eigene Werk: 1968 hat Neumeier zu Pärts Musik „Fraters“ für das Stuttgarter Ballett kreiert. Márcia Haydée tanzte damals den weiblichen Part. Mystisch, jenseitig ist dieser pure Tanz, der in seiner Gemessenheit und dem exakten Minimalismus an eine Butoh-Truppe erinnert. Einfach schön. Mit der letzten Apotheose der Eleonora Duse, schließt Neumeier auch den musikalischen Kreis. „In einer anderen Welt“, so nennt der Choreograf diesen Anhang, erklingt der „Cantus in Memory of Benjamin Britten“, dessen Musik den gesamten ersten Teil begleitet hat.
Die atemlose Stille während sich der Vorhang senkt zeigt wie sehr das Publikum – kaum Touristen, kein Hineinklatschen in den letzten schwebenden Ton, keine blinkenden Displays wie in der Wiener Staatsoper nahezu üblich – beeindruckt ist. Ganz allein steht Alessandra Ferri im hellen Bühnenlicht, wenn sich der Vorhang wieder hebt. Tosender Applaus, durch die Luft fliegende Buketts.
Ein wunderbarer Abend.
42. Hamburger Ballett-Tage: „Duse“, choreografische Phantasien über Eleonora Duse von John Neumeier. Uraufführung: Hamburg, 6. Dezember 2015; gesehen in der Originalbesetzung am 15. Juli 2016
Musik: Benjamin Britten, Arvo Pärt. Choreografie, Bühnenbild (unter Verwendung einer von Charles Edwards entworfenen Theaterwand), Licht und Kostüme: John Neumeier
Musikalische Leitung: Simon Hewett; Konradin Seitzer, Violine; Ondřej Rudčenko, Klavier, Philharmonisches Staatsorchester Hamburg.