Hamburg Ballett, J. Neumeier: „A Cinderella Story“
Seit mehr als 40 Jahren erfreut John Neumeier mit seinem Hamburg Ballett das Publikum, vornehmlich Hamburgerinnen, mit den sommerlichen Ballett-Tagen. Eine feine Gelegenheit Schätze aus dem Repertoire zu zeigen, das Neumeier pflegt und immer wieder auffrischt, Neues zu präsentieren und Gäste und mitunter auch Gastcompagnien einzuladen.
Bei den 42. Hamburger Ballett-Tagen in der ersten Julihälfte 2016 war die Uraufführung von „Turangalîla“, einer Choreografie Neumeiers zur gleichnamigen Sinfonie von Olivier Messiaen, das von Publikum wie Kritik positiv angenommene Extrageschenk.
In den Stuttgarter Nachrichten zeigt sich auch Hartmut Regnitz begeistert:
Dass sich Neumeier zum Auftakt der 42. Hamburger Ballett-Tage überhaupt einer solchen Herausforderung stellt, ist schon einiger Bewunderung wert. Noch mehr, dass er sich dabei einer Eindeutigkeit versagt und dem Werk kein „Handlungsgerüst“ überstülpt. […]Olivier Messiaen hätte an der Freudensinfonie möglicherweise seine Freude gehabt.
Zwei Wochen sind etwas zu lang, um die Tage im wienfernen Hamburg zu verbringen. Also habe ich mir die „Cinderella Story“ Neumeiers ausgesucht, eine Kreation aus dem Jahr 1992, die Neumeier im Herbst 2015 wiederaufgenommen hat. Der Bezug zu Wien ist vorhanden: Bei der Uraufführung hat Manuel Legris, der erfolgreiche Wiener Ballettdirektor, die Rolle des Prinzen getanzt. Jetzt ist Edvin Revazov, einst Neumeiers Tadzio im Ballett „Tod in Venedig“, der verträumte Prinz.
Der Titel „A Cinderella Story“ muss laut Neumeier etwa so gelesen werden: „Eine echte Aschenbrödel-Story“, also kein Märchen, eher ein Mythos, eine Geschichte eben, wie die von Cinderella. Ein Ballett der Selbstfindung und des Erwachsenwerdens, wobei sich Neumeier weniger an die Erzählung von Charles Perrault, für die Sergej Prokofjew die Märchenmusik komponiert hat, als an die in Grimms Hausmärchen erschienene Geschichte vom mutterlosen Mädchen, dass von der Stiefmutter an den Herd verbannt wird, während deren eigenen Töchter Feste feiern, hält.
Im dezenten mehr mit Licht und durchlässigen Vorhängen als mit Versatzstücken ausgestatteten Bühnenbild von Jürgen Rose agieren lebendige Menschen, teilweise komisch verzerrt und zu Karikaturen aufgeblasene, was ganz in der Natur von Prokofjews Komposition liegt. Für den Prinzen, eine Künstlernatur, am Hof des eitlen Vaters (Thomas Stuhrmann) ebenso Außenseiter wie Cinderella (Anna Laudere) im Haus ihres verwitweten und wiederverheirateten Vaters, am Rand steht. Hamlet gleich, kann sie nicht verstehen, dass der Leichenschmaus flugs zum Hochzeitsmahl geworden ist.
Prokofjews Komposition, mitten im 2. Weltkrieg begonnen und ein halbes Jahr nach Kriegsende, 1945, uraufgeführt, ist uneinheitlich und sprunghaft. Mal schmeichelnd lyrisch, dann wieder rhythmisch pointiert und skurril. Mitunter zitiert der Komponist sich selbst. Etwa in der fröhlichen Szene mit den Orangen als Liebesapfel aus der Oper "Die Liebe zu den drei Orangen".
Neumeier hat die Rolle des Prinzen ausgeweitet und ihm für zwei Solos frühe Stücke von Prokofjew (die symphonische Skizze „Herbstliches“ op. 8 und die symphonische Dichtung „Träume“, op.6) geschenkt. So bekommt der Prinz, im Märchen ja eher wenig charakterisiert, ein Profil.
Die Tänzerinnen und Tänzer des Hamburg Balletts zu loben, ist so überflüssig wie die Eulen nach Athen zu tragen. Man kennt sie alle, auch in Wien. Dennoch: Anna Laudere als trauriges Mädchen ist so jung, naiv und schön, dass ich sie gleich in den Arm nehmen möchte. Doch sie braucht die Hilfe nicht und macht eindrucksvoll glaubhaft, dass sich Cinderella von ganz allein gegen die Demütigungen zu wehren beginnt und sich zu einer selbstbewussten Frau entwickelt, die weiß, wohin sie gehört. Jedenfalls nicht zur feinen Gesellschaft, die Neumeier mit Hilfe der Musik aufs köstlichste karikiert. Was jedoch sein Publikum, die Hamburger Gesellschaft, nicht vom stürmischen Applaus abhält.
Für Laudere und die beiden Ballerinen Silvia Azzoni als schröckliche Stiefmutter, die immer noch meint mit den Töchtern konkurrieren zu müssen und Hayley Page, die als stets präsente Mutter, eine blaue Fee, nicht mehr von dieser Welt, in Cinderellas Gedächtnis, über die Bühne schwebt, regnete es Bouquets von erlesener Qualität. Auch Leslie Heylmann und Carolina Agüero, die mit viel Vergnügen und kräftiger Übertreibung die hohlen, eitlen Stiefschwestern tanzen, werden beklatscht.
Den kräftigsten Applaus vom teils jungen Publikum erhielten die von Neumeier als märchenhaftes Element eingeführten vier Vogel-Geister (Alexandre Riabko, Aleix Martinez, Christopher Evans, Marcelino Libao), die Cinderella, allerliebst flatternd, auf ihrem Weg begleiten, der sie schließlich zum Haselstrauch auf dem Grab der Mutter führt, wo der Prinz auf sie wartet. Der Schluss-Pas de deux: Schöner als „Romeo und Julia“, weil Tod und Trennung in dieser „Cinderella-Story“ nicht vorkommen.
Doch John Neumeier kommt vor den Vorhang und lässt es sich nicht nehmen, seiner Compagnie öffentlich zu danken (Laudere bekam ein kräftiges Bussi) und in den Liebesbezeugungen des Publikums zu baden. Er hat es verdient.
Fast vergessen: Dirigiert hat das Philharmonische Staatsorchester Hamburg Simon Hewett, Erster Dirigent des Hamburger Balletts. Er dirigiert nahezu sämtliche Vorstellung der Ballett-Tage 2016.
42. Hamburger Ballett-Tage: „A Cinderella Story“, 71. Vorstellung seit der Premiere am 15. Mai 1992, am 14. Juli 2016