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Hamburg Ballett: „Giselle“ von John Neumeier

Bühnebild 1. Akt mit Ensemble. © Holger Badekow

Der Direktor des Hamburg Balletts hat das romantische Ballett „Giselle“ zur Musik von Adolph Adam neu geschaffen indem er traditionelle Teile (Jean Coralli, Jules Perrot und Marius Petipa) mit neuen Ideen gemischt hat. Bei den 42. Ballett-Tagen hat er das Publikum mit der gelungen Mischung aus seiner eigenen und traditioneller Tanzsprache im luftig-leichten Bühnenbild und ebensolchen Kostümen von Yannis Kokkos zu frenetischem Beifall hingerissen. Alina Cojocaru tanzt als Gast die Titelrolle, ihr Partner ist der junge Ukrainer Alexandr Trusch.


Schon während der Ouvertüre ist der Vorhang offen, Giselle liegt tot auf dem Boden, Bauernmädchen und Winzerinnen zeigen in expressionistischen Gesten ihre Verzweiflung. Der ganze erste Akt ist eine Rückblende auf das tragische Ende der enttäuschten Verliebten.
Die Architektur ist geblieben, wie sie aus dem 19. Jahrhundert bekannt ist: Links das Häuschen von Giselle und ihrer Mutter, rechts die Hütte, in der Albert, der Herzog, der sich als Landmann verkleidet, um ungehindert mit Giselle tändeln zu können, das verräterische Schwert ablegt. Doch Bühnenbildner Kokkos hat sich in die Kindheit zurückbegeben, malt mit Buntstiften die Wände an und stellt zwei einfache weiße Schablonen als Unterkunft an die Seiten. Der Bühnenboden ist in strahlendem Weiß – die heile Welt wird bald zusammenbrechen. HH GiselleTruschCojocaruNeu gestaltet hat Neumeier auch die Rolle der Mutter (undurchsichtig und bedrohlich: Miljana Vračarić), sie ist eine blinde Seherin, eine Zauberin, die den Fluch kennt und Giselle vergeblich vor dem schrecklichen Ende und der Verwandlung in eine Willi warnt. Auch die Handlung des ersten Aktes, im Dorf, ist ins 21. Jahrhundert versetzt, die Mädchen tragen leichte Sommerkleider, Bauern und Winzer sind mit den Jägern in roten Röcken nicht verfeindet.
Bathilde, die Tochter des Prinzen von Kurland und Albert längst versprochen, ist keine würdige Dame im Samtkleid, sondern ein junges Ding, das noch mit dem Teddybären spielt, sich ihrer Position aber recht bewusst ist. Emilie Mazoń tanzt allerliebst dieses Mädchen, das stolz den Verlobungsring herumzeigt, aber sonst wenig Ahnung vom Frausein hat. Schon mit 18 Jahren ist sie 2013 nach der Hamburg-Ballettschule ins Ensemble aufgenommen worden und hat die Herzen des Publikums (und der Kritiker_innen) als Julia und Marie („Romeo und Julia“, „Nussknacker“) längst erobert.

Im Wald der Willis (Cojocaru, Trusch). © Holger BadekoeIm Zentrum des Geschehens aber umgirren einander Giselle und Albert. Sowohl Alina Cojocaru als auch Alexandr Trusch haben die Rolle bereits in allen Fasern ihres Körpers. Trusch ist ein nimmermüder Tänzer, der vor allem in zweiten Akt durch grandiose Kapriolen und hohe Sprüngen mit weicher Landung, perfekte Entrechats und feinem Port de bras begeistert. Und als hübscher Kerl ist er auch ein glaubhafter Verführer, der die innige Liebe zu spät erkennt und dann auf seine Weise Buße tun will.
Cojocaru ist eine erfahrene weltberühmte Giselle, die ihrer Rolle immer wieder neue Facetten abgewinnt, bezaubernd jung und nahezu sinnlos glücklich im ersten Akt, die hohe Kunst des romantischen Tanzes im zweiten verkörpernd. Ihr Kreiseln auf einem Bein zu Beginn des Auftritts der Geister im düsteren Wald – eine nach der anderen schweben die Willis aus dem Licht ins Dunkel – ist unnachahmlich. Die Willis sind für Neumeier eine Schar hämisch lachender, rachsüchtiger Geister, die kein Mitleid kennen. Die Willis tanzen die Männer zu Tode (Ensemble). © Holger badekow
Myrta, ihre Königin, getanzt von Anna Laudere, ohne diese üblichen grässlichen Plastik-Lilien, hat wie ihr gesamtes Gefolge harte eckige Bewegungen. Nur Giselle, noch nicht ganz verwandelt, ist weich und anschmiegsam, kann noch fühlen und dadurch Albert retten, auch wenn der sich in rasendem Wirbel (noch einmal begeistert Trusch) fast zu Tode tanzt. Diesem Schicksal entgeht Hilarion, der Wildhüter, nicht. Er würde standesgemäß viel besser zu Giselle passen, verehrt sie auch und wird von der geheimnisvollen Mutter favorisiert. Aus Eifersucht zeigt er im ersten Akt Alberts Schwert her und macht so dessen wahre Identität öffentlich. War das die böse Tat für die er von den Willis zu Tode getanzt wird? Carsten Jung tanzt dieses furiose Solo mit solcher Begeisterung, dass es zum Liebestod wird.

Wahnsinn ohne Schwert. Dass Giselle im ersten Akt nicht mit dem Schwert die Dorfjugend umkreisend stirbt, sondern einsam und verlassen unter wilden Zuckungen nur von der Mutter und Hilarion getröstet (Albert steht eher betropetzt daneben), ihr kurzes Leben aushaucht, ist ebenso eine Neuerung wie dass die Mutter im zweiten Akt mit Hilarion das Grab (ein schlichtes Holzkreuz) der an gebrochenem Herzen gestorbenen Giselle besucht.

Den berühmten „Bauern Pas de deux“ im ersten Akt, stets eine Herausforderung für das Paar, hat Neumeier „traditionell“ belassen. Karen Azatyan (Gabriele d’Annunzio in „Duse“) und Madoka Sugai (die in Japan ausgebildete Ballerina hat im Bundesjugendballett begonnen uns ist seit 2014 in Neumeiers Ensemble) ernten für ihre Darbietung reichlich Applaus.

Ein ganzes Bataillon von Verehrern müssen die beiden Ersten Willis, Zulma und Moyna genannt, haben, denn die beiden aus Japan stammenden Tänzerinnen, Mayo Arii und Futuba Ishizaki, wurden nachdem der Vorhang (viel zu früh, ich hätte dem Ensemble der Willis in den weich die Beine umschmeichelnden Tütüs von Kokkos noch stundenlang zusehen können) gefallen ist, mit Blumen nahezu zugedeckt. Artig lächelnd verbeugten sich die beiden Damen. Noch einmal 2. Akt von "Giselle" ganz traditionell, weils so schö sit . © Holger Badekow

Verbeugen musste sich auch der Hausdirigent des Hamburg Balletts, Simon Hewett, und natürlich und mehrmals auch Choreograf und Ballettchef Neumeier selbst. Wie sehr ihn das Publikum, sein Publikum, liebt, ist immer wieder beglückend zu sehen und zu anzuhören.

Hamburg Ballett: „Giselle“ Neue Choreografie und Inszenierung (2000): John Neumeier, Traditionelle Choreografie: Jean Coralli, Jules Perrot, Marius Petipa. Bühnenbild und Kostüme: Yannis Kokkos.
52. Vorstellung seit der Premiere des Natascha Makarova, „unforgettable Giselle – with deepest thanks for her generous artistic advice and inspiration“ gewidmeten Balletts; gesehen am 16. Juli im Rahmen der 42. Hamburger Ballett-Tage.