Romantisch mit Chopin, heiter mit Mozart
Die letzte Ballettpremiere der aktuellen Saison gehört der Volksoper. Unter dem Titel Les Sylphides gibt das Wiener Staatsballett drei unterschiedliche Werke unterschiedlichen Alters zum Besten. Auf die titelgebende Choreografie, Les Sylphides von Michel Fokine, folgt ein Choreografieversuch der Tänzerin Adi Hanan, genannt Eden. Den Abschluss des Abends bildet das Klavierkonzert Nr. 9 Es-Dur von W. A. Mozart, zu dem Uwe Scholz das Ballett Jeunehomme, benannt nach dem inzwischen verpönten Spitznamen der Komposition, kreiert hat. Ein heiterer, für das Publikum wenig anstrengender Abend.
Mit dem Ballett für eine Gruppe von Tänzerinnen und einen Tänzer zur Musik von Frédéric Chopin hat der russisch-amerikanische Choreograf Michel Fokine (1880–1942) Tanzgeschichte geschrieben. 1908 am Mariinski-Theater in St. Petersburg uraufgeführt, setzt es einen doppelten Eckpunkt. Einerseits ist es das letzte romantische Ballett, ein Ballet blanc, in dem die Tänzerinnen im weißen Tutu versuchen, die Schwerkraft zu überlisten. Zugleich hat Fokine das erste handlungslose Ballett geschaffen. „Eine romantische Träumerei“ war angekündigt, die im Februar 1909 den Namen Chopiniana erhalten hat. Bei seiner westeuropäischen Erstaufführung im Juni 1909 durch die Ballets Russes in Paris wurde das Ballett auf Wunsch von Sergej Diaghilew in Les Sylphides umbenannt. Die Klavierwerke Chopins, zu denen Fokine die luftigen Wesen tanzen lässt, sind mehrfach instrumentiert worden, die bekanntesten Komponisten sind Alexander Glasunow (1865–1936), von dem auch die Musik zum Ballett Raymonda stammt, und Benjamin Britten (1913–1976). Für diesen samt der Ergänzung durch den Britten-Kenner Colin Matthews (* 1946) hat sich Ballettmeisterin Barbora Kohoutková entschieden, die das historische Werk einstudiert hat. In Wien haben die Sylphen 1973 zum letzten Mal getanzt, damals auf der großen Bühne der Staatsoper. In der Volksoper kommen die eindrucksvollen, nahezu ikonischen Bilder, zu denen Fokine die Corpstänzerinnen arrangiert, nicht zur Geltung. Die Bühne ist zu klein, die Sylphiden können nur noch mit den Armen schwingen, das Schweben wird zum Zappeln. Auch die Solistinnen, Ioanna Avraam, Elena Bottaro und Olga Esina müssen sich einbremsen, wie auch der die flatterhaften Wesen aufmischende junge Mann (Masayu Kimoto) können sie sich nicht wirklich entfalten. Es gibt einen einzigen Glücksmoment: Kimoto hebt Bottaro waagrecht in die Höhe, macht einen schnellen Schritt und ich warte, dass sich die Sylphide in die Lüfte erhebt. Doch Sylphiden sind keine Vögel. Alle Tänzerinnen tanzen diese Choreografie zum ersten Mal, also muss man über ungleich flatternde Arme und steife Rücken hinwegsehen.
Der Titel Eden von Adi Hanans erster Choreografie darf nicht mit dem großartigen Ballett von Wayne McGregor Eden Eden verwechselt werden. Auch ist es nicht hilfreich, die Bühne eines großen Opernhauses für ersten Schritte einer Tänzerin, die sich als Choreografin vorstellt, zu öffnen. Das Erstlingswerk, eingeklemmt zwischen zwei ausgereifte, mehrfach erfolgreiche Werke, hat wenig Chance. Wer großes leisten will, muss klein anfangen.
Klein ist er nicht, der junge finnische Pianist Johannes Piirto, aber unsichtbar. Wieder einmal sitzt er im Orchestergraben, während sich das Publikum auf die Bühne konzentriert. Noch einmal fällt mir auf, dass die Bühne in der Volksoper klein ist, vor allem keine Tiefe hat. Bei diesem Werk des deutschen Choreografen Uwe Scholz (1958–2004) sollte das Klavier und sogar auch das Orchester oben auf der Bühne hinter den Tanzenden sein, dann würde die Musik mit dem Tanz verschmelzen. Dann würde der Dirigent Ido Arad sein Debüt an der Wiener Staatsoper nicht so getragen feiern und die Luftgeister würden an Drive gewinnen. Uwe Scholz ist ein romantischer Künstler, und der hat unglücklich zu sein. Regisseur Günter Atteln, spezialisiert auf Musikdokumentationen, stellt den Choreografen in seinem preisgekrönten Film, Seelenlandschaften – der Choreograph Uwe Scholz, als Schmerzensmann dar. „Frühverstorben“ ist das Epitheton, das am Künstler klebt. Er ist unantastbar. In seiner Mozartiana, dem genannte Klavierkonzert Nr. 9, lässt er nichts davon spüren. Der neckische junge Mann, der im 1. Satz, Allegro als Solist die Bühne beherrscht, scheint durchaus Freude am Leben zu haben. Immerhin ist er von sechs Damen umringt, die er im Vorbeifliegen beflirtet, obwohl sie mit ihren Partnern da sind. Davide Dato mit zierlichem Mozartzopf wird für dieses Solo mit Sprüngen und Manegen gebührend gefeiert. Seine Lieblingsrolle wird es wohl nicht werden, stelle ich mir vor, doch er ist und bleibt Publikumsliebling Numero eins. Danach haucht Ioanna Avraam dem 2. Satz, Andantino, pulsierendes Leben ein. Marcos Menha als Partner kann da nicht mithalten, ihre Angebote bleiben unbeantwortet, er verzieht keine Miene. Doch das Spiel dieses Paares führt zu einem guten Ende. Zwar hat er sie verlassen, doch bald kommt er zurück. Sie verhehlt ihr Glück nicht. Rondeau. Presto – Menuetto cantabile steht über dem furiosen 3. Satz, der ganz und gar Kiyoka Hashimoto gehört. Ihr Partner ist Alexey Popov. Wenn er die Tänzerin stabilisieren soll, muss man fürchten, er zerquetscht sie, so fest packt er zu. In diesem Schluss gibt es neben den sechs Paaren, die zu Beginn auf der Bühne war, auch vier Solotänzerinnen. Zwischen Sveva Gargiulo, Sinthia Liz und Aleksandra Liashenko fällt mir besonders die Halbsolistin Gaia Fredianelli auf.
Die niedlichen Kostüme evozieren die Mozartzeit, Karl Lagerfeld (1933–2019) hat sie entworfen, Catherine Voeffray hat sie nach den Entwürfen rekonstruiert. Lagerfeld hat im Hintergrund der Bühne eine Reproduktion der ersten Seite des Autografs des Es-Dur-Konzerts aufgehängt. Dort, wo Johannes Piirto sitzen sollte, sieht man in Scherenschnittmanier ist eine Frau am Klavier. Mit der Vermutung, die Dame könnte die blinde Wiener Pianistin Maria Theresia Paradis sein, lag Lagerfeld falsch. Seit 2004 plädieren die Mozart-Forscherinnen dafür, das Es-Dur-Konzert in Jenamy-Konzert umzubenennen (was die Choreografie nicht betreffen würde). Jüngste Forschungen ergeben, dass Mozart diese Klavierkonzert + der Tochter Jean Georges Noverres (1727–1810) gewidmet hat, der schon damals berühmte französische Tänzer, Choreograf und Lehrer war mit Mozart bekannt. 1776 hat Louise Victoire Noverre, verh. Jenamy (1749 –1812) die Mozarts in Salzburg besucht und ihm auf dem Piano vorgespielt. Offensichtlich war Mozart von ihrem Können so beeindruckt, dass er ihr sein mit einigen Schwierigkeiten gespicktes 9. Klavierkonzert gewidmet hat. Der Wiener Musikologe Michael Lorenz hat 2014 eine Philippika gegen den „fortgesetzten Jeunehomme-Unsinn“ gewettert, doch der populäre Name wird noch eine Weile an Mozarts Meisterwerk kleben.
Ceterum censeo: Im Übrigen bin ich der Meinung, dass es unsinnig ist, die Vorstellungen des Staatsballetts auf zwei Websites zu verteilen. Das Wiener Staatsballett verdient eine eigene Website.
Les Sylphides: Ballette von Michel Fokine, Adi Hanan, Uwe Scholz. Wiener Staatsballett in der Volksoper. Premiere: 8. Mai 2024.
Les Sylphides: Musik von Frédéric Chopin, für Orchester bearbeitet von Benjamin Britten, mit einer Ergänzung von Colin Matthews.
Choreografie: Michel Fokine. Bühne und Kostüme: Darko Petrovic; Einstudierung: Barbora Kohoutková.
Eden: Musik von Franz Schubert, Streichquartett Nr. 14, für Orchester bearbeitet von Gustav Mahler, Spiegel im Spiegel für Violine & Klavier von Arvo Pärt. Violine: Anne Harvey-Nagl; Klavier: Chie Ishimoto.
Choreografie: Adi Hanan; Bühne Michael Seibert; Kostüme: Maya Bash; Ballettmeister: Martin Schläpfer. Uraufführung.
Jeunehomme: Musik von Wolfgang Amadeus Mozart. Konzert für Klavier & Orchester, Nr. 9 Es-Dur, KV 271 „Jenamy“.
Choreografie: Uwe Scholz
Bühne und Kostüme. Karl Lagerfeld. Rekonstruktion der Kostüme: Catherine Voeffray. Einstudierung Giovanni Di Palma.
Ido Arad hat das Orchester der Volksoper geleitet. Licht: Alex Brok. Wiener Staatsballett in der Volksoper.
Fotos: © Wiener Staatsballett / Ashley Taylor
Nächste Vorstellungen. 11., 13., 17. 22., 26., 30. Mai 2024.