Ballettpremiere: MacMillan | McGregor | Ashton
Umrahmt von zwei kleinen Stücken aus dem 20. Jahrhunderts feierte das auch nicht ganz taufrische Tanzstück von Wayne McGregor „Eden Eden“ bei der ersten Aufführung des dreiteiligen, als „very british“ angepriesenen Abends, einen Triumph. Ein aufregendes, ernsthaftes Stück zur Musik von Steve Reich, das sich mit den Möglichkeiten und Auswüchsen des Klonens von Lebewesen beschäftigt. „Concerto“ von Sir Kenneth MacMillan und „Marguerite and Armand“ von Frederick Ashton erscheinen dagegen als schwacher Rahmen, was keineswegs an den Tänzer*innen liegt.
Dass alle drei Choreografen in England geboren sind und auch dort gewirkt haben und, was McGregor betrifft, wirken, ist wohl die einzige Verbindung, die sie eint. Aber ein dreiteiliger Abend benötigt einen Titel und einen roten Faden. Benötigt er wirklich? Außer dem Heimatland trennen Ashton und MacMillan Welten von Wayne McGregor. Sein Stück „Eden Eden“ ist 2005 vom Stuttgarter Ballett uraufgeführt worden, MacMillans „Concerto“, getanzt vom Ballett der Deutschen Oper Berlin zum 2. Klavierkonzert von Dimitri Schostakowitsch, 1966 und Ashtons „Marguerite and Armand“, geheiligt, weil es für Rudolf Nurejew und Margot Fonteyn geschaffen worden ist, noch früher, nämlich 1963 am Royal Opera House in London. Ach ja, alle drei Meister dürfen sich „choreographer in residence“ an der Königlichen Oper in London nennen. Verbindungen sind immer zu finden, wenn nur lange genug gesucht wird.
„Never mind“, sagt der Engländer, wäre ja wirklich egal, wenn nicht die beiden historischen Stücke durch das aktuelle ihren Glanz verloren hätten. Das ist schade für die exzellenten Tänzer*innen des Wiener Staatsballetts, die vor allem in „Eden Eden“ eine ungeahnte Bandbreite ihres Könnens zeigen.
Macmillans „Concerto“ hält sich an die drei Sätze des Klavierkonzertes und zeigt im ersten Satz den Ballettsaal, in dem das weibliche Corps de Ballett Schritte und Port de bras ausführen. Ein Solopaar (Nikisha Fogo, Denys Cherevychko) zeigt Sprünge und Hebungen, in ihrem Schatten tanzen noch drei Paare (Elena Bottaro, Anita Manolova, Céline Janou Weder; Richard Szabó, Dumitru Taran, Andrey Teterin) in petrolfarbenen Kostümen, die Männer in langen Trikots, die Damen mit knappen Röckchen, die ihre Beine wunderbar zur Geltung bringen.
Der 2. Satz ist ganz dem Traumpaaar Nina Poláková und Roman Lazik gewidmet. Die Ballerina steht quasi an der Stange, die der Partner abgeben muss. Poláková zeigt anmutig und geschmeidig in perfekter Technik ihre großartige, exakte Beinarbeit; Lazik ist zurückhaltend, nahezu unsichtbar. Wie vorgesehen. Dieser Adagio-Satz allein macht „Concerto“ sehenswert.
Im dritten Satz hat Alice Firenze einen schwierigen Part. Sie hat ihren Partner verloren und tanzt den Pas de deux allein. Ich leide mit beim Zusehen. Der Beinbruch des Partners passierte allerdings schon kurz vor der Uraufführung. MacMillan hatte keine Zeit mehr, die Choreografie umzuschreiben, ließ die Solistin Silvia Kesselheim alleine auf die Bühne und war von ihrer Darbietung so begeistert, dass er auch für die Folgeaufführungen nicht viel geändert hat an diesem Pas de deux der Ballerina allein.
MacMillan hat später die Ausstattung des bewunderten Künstlers Jürgen Rose verworfen und seiner Frau, der Malerin Deborah Williams, erlaubt, Kostüme und Bühne zu gestalten. Für den Hintergrund hat sie ein Fenster im Stil Magrittes gemalt, die Trikots in unansehnlichen Farben entworfen. Kein Gewinn.
Kenneth MacMillan ist bekannt und geliebt für seine feinfühlig choreografierten Handlungsballette („Manon“ und „Mayerling“ sind im Repertoire des Wiener Staatsballetts), „Concerto“ hat er zum Einstand als Ballettdirektor an der Berliner Oper, ganz im Sinne George Balanchines geschaffen. Verzichtbar, doch nicht gar so aus der Zeit gefallen, démodé fällt mir als passender Ausdruck ein, wie „Marguerite and Armand.“
Fredrick Ashtons Geschenk an das ungewöhnliche Paar Nurejew / Fonteyn blieb 50 Jahre lang unangerührt, zu Lebzeiten durfte die Abfolge von Pas de deux zur Musik Franz Liszts niemand nachtanzen. Nun aber wagen sich immer mehr Compagnien an das historische Stück, das nur noch wenige Ballett-Liebhaberinnen auf der Bühne gesehen haben. Wien hat mit Liudmila Konovalova und Jakob Feyferlik ein Paar gekürt, das sämtliche Emotionen der ungleichen Liebe – nicht nur Nurejew und Fonteyn trennten 20 Jahre, auch im Roman „Die Kameliendame“ von Alexandre Dumas, dem Jüngeren, auf dem Ashtons Ballett basiert, ist Armand ein unreifer Jüngling, dem der Vater die Liaison nicht gestattet – intensiv zu spielen weiß. Unreife darf dem Solotänzer der Wiener Compagnie nicht nachgesagt werden, seine erfrischende Jugend jedoch ist eine Tatsache. Konovalova zeigt die gesamte Gefühlspalette dieser an Tuberkulose leidenden Kurtisane, von taumelnder Liebesseligkeit bis zu Entsagungsschmerz und Todesangst. Doch kann ich mich heute mit dieser sentimentalen Liebesgeschichte nicht mehr identifizieren.
Auch Ashtons Ballett krankt am Bühnenbild von Cecil Beaton. Der Designer ist 1980 gestorben, das Ballett spielt im 19. Jahrhundert, wenn man ihm nicht das Schild „Achtung aus dem Archiv“ umhängt, ist die etwas muffige, pathostriefende Geschichte, die unglücklicherweise damit endet, dass Armand der toten Marguerite die Augen schließt, nahezu unerträglich.
Besonders wenn davor „Eden Eden“ das Blut in Wallung und das Gehirn zum Arbeiten gebracht hat. Wayne McGregor (* 1970) will, abgesehen vom Themenkreis der Humanwissenschaften, mit dem er sich permanent beschäftigt, den Tanzkörper (diesmal ein passendes Wort, denn in seinen Stücken bewegen sich keine Individuen, sondern anonyme, auch androgyne Körper) erforschen und bis an den Rand seiner Möglichkeiten treiben. Allen voran zeigt Solotänzerin Natascha Mair mit einem Vokabular, das alles erlaubt, was das klassische Ballett verbietet, wie weit sie ihren Körper zu malträtieren vermag. Jegliche Harmonie ist ausgeschaltet, als litten die Körper unter einer Funktionsstörung taumeln sie in extremen Bewegungen, verbogen in sämtliche Richtung, schiefliegend und desorientiert, dennoch schnell und präzise, über die Bühne, sind mehr Roboter als menschliche Wesen. Mit Mair haben Nikisha Fogo, Rebecca Horner, Madison Young, Denys Cherevychko, Francesco Costa, Masayu Kimoto, Tristan Ridel und Zsolt Török als fremde Wesen das Publikum staunen lassen. Die schwierige, doch perfekte Einstudierung ist Antoine Vereecken zu verdanken.
Ein beeindruckendes, aufwühlendes Stück, das mit der Musik Steve Reichs samt den dazu komponierten Zitaten, der unheimlichen Lichtshow (Charles Balfour, Katie Pitt) und den Filmeinblendungen (Ravi Depres, visuelle Effekte: Luke Unsworth) zu einer beklemmenden Einheit verschmilzt. Was William Forsythe im 20. Jahrhundert begonnen hat, ohne das klassische Vokabular ganz zu vergessen, setzt Wayne McGregor mit mehr als 30 Werken in nicht viel mehr als 20 Jahren fort, dem Körper neue Möglichkeit und dem Tanz (den Tänzer*innen) mehr Freiheit zu bescheren. Durch die Verschmelzung der Medien gelingt es ihm auch, zu zeigen, dass der Tanz sowohl Gefühl, wie auch Geist ansprechen kann und selbst schwierige Themen mit dem Körper vermittelt werden können. Mehr davon bitte.
Ballettpremiere: MacMillan | McGregor | Ashton: “Concerto” | “Eden Eden” | “Marguerite and Armand“. 31, Oktober 2017, Wiener Staatsballett in der Staatsoper.
Nächste Vorstellungen: 3., 6., 10. November.