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Die ganze Welt auf der Drehbühne

Katharina Illnar, Hinako Taira, Nicole Stroh: Die Moiren.

Der polnische Choreograf Maciej Kuźmiński hat mit TANZ Linz tief in uralten Mythen und im persönlichen Gedächtnis gegraben. Er erzählt von gestern und denkt an heute. Memoryhouse ist ein Tanzstück, das die Tänzerinnen herausfordert und den Zuschauerinnen die Freiheit gibt, ihr eigenes Erinnerungshaus zu bauen. Premiere war am 9. Februar im Schauspielhaus Linz.

Lorenzo Ruta (Sisyphos) müht sich an der steinernen Welle, die dieBühne beherrscht und von den Tänzerinnen genutzt wird. Ungewöhnlich. Die Bühne wird von einer riesigen steinernen Welle, einer sich ununterbrochenen Spirale, die auch die Gestalt eines Skating Parks annimmt, beherrscht. Die Bühnen- und Kostümbildnerin Gabriela Neubauer hat dieses fantastische Objekt entworfen, eine Metapher, ein Symbol für das ewige Auf und Ab der Menschheitsgeschichte. Wie die schaukelnden Pferde, gepolsterten Kutschen und gefiederten Schwäne in einem Ringelspiel, ziehen in der Weltgeschichte Krieg und Frieden, Liebe und Hass, Gemeinschaft und Isolation, Leben und Tod an den entfernten Betrachterinnen vorbei. In diesem Carrousel bewegen sich die Tänzerinnen als ephemere Wesen, Figuren zwischen Leben und Tod, Geister aus der Vergangenheit.
Die Tänzerinnen nutzen das zentrale Objekt, bewegen sich darin, darauf und rundherum. Die aus der Erinnerung kommenden Figuren, von Neubauer in graue Einheitskleidung gesteckt, umtanzen diese sich ständig drehende Welle, erobern die einzelnen Segmente der Spirale, springen hinauf und rutschen herunter, liegen bewegungslos innen drin, wie in einem Grab. Stimmt, Kuźmiński hat nicht nur an griechische Mythen gedacht und die Schicksalsgöttinnen auf die Bühne geholt, sondern aus dem kollektiven Gedächtnis auch das Desaster von Pompeji hervorgeholt, als der Aschenregen die Bewohnerinnen mitten im Alltag übergossen und Männer und Frauen, Kinder und Eltern, in der Bewegung erstarrt, konserviert hat.Solo für Hinako Taira, eine der drei Moiren. Das Gedächtnishaus auf der Bühne hat nur winzige Fenster, ist kaum von Lebenden bewohnt und birgt mehr Schrecken und Trauer als Frohsinn und Sonnenschein. Einen kurzen Moment erhellt sich die Düsternis, die Gruppe sitzt mit dem Rücken zum Publikum und lauscht einem Nocturne von Chopin. Das Kunsterlebnis in der Gemeinschaft als Trost? Vielleicht.
Kuźmiński erzählt keine fortlaufende Geschichte, öffnet jedoch verschiedene Fenster, gemeinsame öffentliche und die privaten, im Memoryhouse und hat einige Figuren aus der Mythologie herausgearbeitet. So müht sich Sisyphos (Lorenzo Ruta) vergeblich die Welle zu ersteigen. In der Überlieferung ist es ein Stein, der ihm immer wieder entgleitet, sodass er niemals den Gipfel erreicht, in Linz ist es Sisyphos selbst, der immer wieder abrutscht. Sind wir alle Sisyphos, dessen unermüdliches Tun vergeblich und sinnlos ist? Vielleicht. Die Trommeln rufen zum Krieg, die Geister rüsten sich. Identifizierbar sind auch die drei Moiren, die Schicksalsgöttinnen (Katharina Illnar, Hinako Taira, Nicole Stroh), die den Abend einleiten und die gesamte Zeit begleiten. Ohne Mitgefühl spinnen sie Krieg und Tod, Naturkatastrophen und persönliches Unglück. Ändern können auch sie nichts. Sind wir dem unbekannten Schicksal ausgeliefert? Vielleicht.
Einer in der Gruppe (Yu-Teng Huang) versucht, das Schicksal zu überlisten und zu ändern. Er spuckt den langen Faden des Verhängnisses aus sich heraus. Die Welle in neuer Perspektive, mit intensiver Dynamik von den Tänzerinnen bespielt.Dazu muss man wissen, dass Huang nicht nur ein hervorragender Tänzer ist, sondern auch Zirkuskünstler. Wie Caroline Finn für ihre Choreografie Romeo & Julia, hat auch Maciej Kuźmiński die Tänzerinnen motiviert, neben ihren persönlichen Assoziationen zum Thema auch ihre tänzerischen Gewohnheiten und Fähigkeiten einzubringen. Jede ihre eigene Choreografin? Vielleicht.
Sicher ist, dass Tanz Linz mit dieser Choreografie und der Energie des persönlichen Einsatzes die Spitze aller österreichischer Tanzcompagnien erreicht hat. Elisa Lodolini mit Pedro Tayette eng umschlungen: Liebe oder Kampf? Gerade die Arbeit mit unterschiedlichen Choreografinnen, das ständige Umstellen auf eine neue Tanzsprache scheint ein perfektes mentales und physisches Training zu sein.
Der international bekannte und mehrfach ausgezeichnete 40jährige Choreograf hat eine eigene Tanzsprache entwickelt, die er „dynamic Phrasing“ nennt, ein System, das dem körperorientierten Corps de dance in Linz absolut entgegen kommt. Worte brauchen Kuźmiński und die Tänzerinnen keine. Sie sprechen mit dem Körper, das ist Tanz. Kuźmiński hat mit den Tänzerinnen ein Werk geschaffen, das durch die Choreografie und den Tanz ebenso besticht wie durch die Einheit von Bewegung, Musik und Bühnenbild. Ein Gesamtkunstwerk, dem es nicht an Tiefe und Gedankenfreiheit für das Publikum fehlt. Frenetischer Jubel hat auch die gesehene 5. Vorstellung beendet.

Memoryhouse, ein Tanzstück von Maciej Kuźmiński,
Uraufführung 9.2. 2024, TANZLINZ, Schauspielhaus.
Choreografie und Inszenierung: Maciej Kuźmiński
Die bewegungslose Hauptdarstellerin auf der Drehbühne. Eine Metapher für die Menschheitsgeschichte, kreiert von Gabriela Neubauer.Dramaturgie: Paul Bargetto, Roma Janus
Bühne und Kostüme: Gabriela Neubauer
Musik: Max Richter, john Luther Adams, Philip Glass, Frédéric Chopin; Sounddesign: Hodei Iriarte Kaperotxipi
Tanz und choreografische Co-Kreation: Elena Sofia Bisci, Matteo Cogliandro, Ilia Dergousoff, Mischa Hall, Katharina Illnar, Elisa Lodolini, Angelica Mattiazzi, Nicole Stroh, Lorenzo Ruta, Arthur Samuel Sicilia, Hinako Taira, Pedro Tayette, Fleur Wijsman.
Weitere Vorstellungen: 23.3., 6., 13.,  21.,  26.4., 3.5.2024.
Philip Brunnader fotografierte die Hauptprobe am 5.2.2024.