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Vergilbte Bilder mit einigen Glanzlichtern

Monsieur Duval tröstet Marguerte. (Eno Peçi, Ketevan Papava)

Marguerite Gautier, die Kameliendame, ist zum ersten Mal 1848 im Roman La Dame aux camélias von Alexandre Dumas fils aufgetreten. Danach eroberte sie die Bühne und das Kino. 1978 hat sich John Neumeier, damals schon in Hamburg als Ballettchef tätig, der Dame angenommen. Für das Stuttgarter Ballett, in dem er bis 1969 selbst als Tänzer engagiert war, hat er seine Version der Kameliendame geschaffen. Jetzt hat der geniale Choreograf das Frühwerk mit dem Wiener Staatsballett erarbeitet. Wie erwartet, war das Premierenpublikum begeistert.

Ketevan Papava ist die Kameliendame, Marguerit Gautier.Neumeier lehnt sich in dieser üppigen Choreografie noch deutlich an seinen Lehrmeister, John Cranko, an. Als Leiter des Stuttgarter Balletts ist Cranko 1973 auf dem Rückflug von einer erfolgreichen USA-Tournee verstorben. Er war 46 Jahre alt und auf der Höhe seines Schaffens. Ihm sind die schönsten Handlungsballette zu verdanken und Neumeier ist in seine Fußstapfen getreten. Dementsprechend erinnern noch in der Kameliendame viele Gesten und auch der Aufbau der drei Akte an Crankos Dramaturgie und Tanzsprache. Wie in Crankos Ballett Onegin gibt es in jedem der drei Akte ein großes Ballett samt einigen kleineren, die Handlung wird dadurch gebremst statt vorangetrieben. Wie schon Cranko, baut Neumeier kleine Scherze und Lazzi ein. In jugendlichem Ungestüm übertreibt er dabei, es fallen zu viele Bücher und Bouquets, es wird zu viel gestolpert und umgefallen. Auch Armand leidet an der Fallsucht, jede kleine Gefühlsregung wirft ihn zu Boden.Hyo-Jung Kang als Manon inmitten deren Verehrer. Armand wird von Timoor Afshar getanzt, aber nicht verkörpert. Der Amerikaner ist in dieser Saison als Solotänzer engagiert worden. Davor hat er im Stuttgarter Ballet als Halbsolist getanzt. Als Armand bleibt er blass und charakterlos. Das wirkt sich auch auf die fabelhafte Ketevan Papava als Marguerite aus. Kein Vergleich mit ihrer Interpretation von Potiphars Weib in der Josephs Legendee (Neumeier / Richard Strauss).
Marguerite (Papava) beschwört Papa Duval (Peçi), ihr nicht den Geliebten zu nehmen. Die Sternstunde ist der Besuch von Armands Vater, Monsieur Duval, im Sommerhaus des Paares. Eno Peçi ist kein herrischer Gast, der Befehle erteilt, Marguerite gefällt ihm. Er zeigt Mitleid, anerkennt die innere Größe, die sie zeigt, indem sie auf den Liebhaber verzichtet und die Einmischung des Vaters verschweigt. Papava kann in dieser Szene zeigen, was in ihr steckt. Der Gefühlssturm bringt sie zum Wanken, Unverständnis und Wut, Einsehen und unendliche Trauer werden sichtbar. Und die Gefühle sind auch hörbar. Neumeier hat einen Komponisten gewählt, der in der Zeit der Handlung gelebt hat: Frédéric Chopin. Dessen Landsmann Michał Białk brilliert als Pianist. Elena Bottarao als flatterhafte Olympia, die den Platz von Marguerite bei Armand (Timoor Afsha) einnimmt. Er weiß, worum es dem Choreografen geht, schließlich arbeitet er seit mehr als 15 Jahren eng mit Neumeier zusammen. Ich kann die Augen schließen und dennoch der Handlung folgen. Liebeslust, Liebesleid und Abschiedsschmerz, lustige Spiele und Neckereien auf dem Land, Affektstürme und Illusionen werden sichtbar und zwischendurch schmeicheln die Anklänge an das Larghetto aus Chopins 2. Klavierkonzert, das sich als Liebesthema durch die Akte zieht. Das Orchester und Markus Lehtinen tragen bei zum musikalischen Erlebnis. Allein dafür kann ich diese vergilbten Bilder doch ein wenig lieben. Auch das beeindruckende Lichtkonzept ist von John Neumeier und erzählt Geschichten, etwa, wenn die Randfiguren, Ballgäste, Spaziergängerinnen als Schatten erscheinen, weil Armand und Marguerite nur noch einander sehen. Marguerite und Manon treffen aufeinander, Manon ist von reichen Verehrern umgeben.  (Ketevan Papava, Hyo-Jung Kang, Männerensemble) Eine Freude ist es, Ioanna Avraam und Masayu Kimoto als fröhliches Paar zuzusehen. Als Kitri im Ballett Don Quixote hat sie schon gezeigt, dass sie schalkhaft und witzig sein kann. Ihre Rollen haben Namen, doch die sind egal, es wuseln ja viel zu viele Menschen um Marguerite und auf der Bühne umher. Es ist schwer zu entscheiden, wer wer ist. Es ist eine Freue, das Paar, mit oder ohne Namen, anzusehen. Beide, Avraam wie Kimoto, wissen genau, wer sie sind und leben in ihrer Rolle. Sie sind fröhlich und gedankenlos, müssen aber nicht kasperln, wie Géraud Wielick seine Rolle des bebrillten Herrn N., möglicherweise ein Dichter, der in anderen Atmosphären lebt, anlegt. Gerne würde ich Avraam als Marguerite sehen. Kimoto gäbe sicher auch einen stattlichen, jungen Admirateur ab.  Marguerite vergnügt sich mit Armand und den Verehrrn auf dem Land. (Ketevan Papava in der Mitte) Der junge Dumas hat den Roman Manon Lescaut von Abbé Prévost (1697–1763) gelesen, der im 18, Jahrhundert spielt. Die Schicksale der beiden Frauen gleichen einander, auch wenn sie völlig unterschiedliche Charaktere sind. Marguerite sieht die Geschichte von Manon und ihrem Geliebten Des Grieux im Theater und spürt eine Seelenverwandtschaft. Neumeier verknüpft die beiden Geschichten, zeigt nicht nur ein Ballett im Ballett, sondern lässt Manon und ihre Verehrer als Traumfiguren Marguerites nahezu ständig mitspielen. Manon wird von Hyo-Jung Kang getanzt, Zwei Zeitebenen der Erzählung: Marguerite haucht ihr Leben aus. tage später liest Armand ihr Tagebuch und erinnert sich. (Ketevan Papava, Timoor Afsha)ihr Partner ist Marcos Menha. Kang ist ein sauberes, romantisches Mädchen, aber keine Manon. Die ist gierig und auf ihren Vorteil bedacht, eine Aufsteigerin, die tief sinkt. Vom Edelmut der Marguerite keine Spur. Kenneth McMillan hat der Manon Lescaut von Prévost ein zauberhaftes, dramatisches Ballett gewidmet, das 1974 vom Royal Ballet uraufgeführt worden ist.
Noch ein Stern leuchtet am Balletthimmel, nicht nur auf diesem aktuellen: Jürgen Rose, der für die Bühne und die Kostüme verantwortlich ist. Die Körper verschmelzen. (Timoor Afsha und Ketevan Papava)Auch er schafft es, mit Stoffen und Farben die Geschichte zu erzählen.  
Ob es daran liegt, dass ich Die Kameliendame bisher nur mit dem Hamburg Ballett gesehen habe, dass mir die drei Stunden ziemlich lang und die Bilder vergilbt, aus einer anderen Zeit herausgefallen, erschienen sind, will ich nicht behaupten.
Es wird noch zwei andere Besetzungen geben: Das Paar Marguerite / Armand wird von Olga Esina und Brendan Saye und auch von Elena Bottaro und Davide Dato getanzt werden.
ceterum censeo:
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass das Ballett eine eigene Website bekommen sollte.

Die Kameliendame, ein Ballett von John Neumeier nach dem Roman La dame aux camélias von Alexandre Dumas fils.
Musik: Frédéric Chopin. Choreografie, Inszenierung & Lichtkonzept: John Neumeier. Bühne & Kostüme: Jürgen Rose. Musikalische Leitung: Markus Lehtinen. Klavier: Michał Białk, auf der Bühne: Igor Zapravdin.
Das Wiener Staatsballett in der Staatsoper.
Premiere: 24. März 2024. Weitere Vorstellung: wiener- staatsoper.at
Fotos: © Wiener Staatsballett / Ashley Taylor