Skip to main content

Lasershow im Nebel einer zerstörten Kindheit

Bruder und Schwester und die Geister der Vergangenheit

Die französisch-österreichische Gis`wlw Vienne trifft mit ihren aufwändigen Inszenierungen den Publikumsgeschmack und hat deshalb auch die Liebe der Performance-Festivals erobert. Uraufführung bei der Ruhrtriennale, danach stehen die Wiener Festwochen, das Festival d’automne in Paris und allerlei Tourneestationen auf dem Plan. Heuer gibt es als Krönung im Mai eine Einladung zum Theatertreffen nach Berlin. Statt der Wiener Festwochen besucht Gisèle Vienne mit ihrer jüngsten Inszenierung, Extra Life, das Tanzquartier. Reichlich Applaus, Pfiffe und Kreischen drücken am Ende der beiden Vorstellungen die Begeisterung des Publikums aus.

Adèle Haenel spielt und tanzt Klara, die Schwester. Das Thema von Extra Life kann es nicht sein, das die Zuschauerinnen in Euphorie versetzt, es ist düster und ergreifend. Es geht um sexuellen Missbrauch, den ein Geschwisterpaar versucht, nach dreißig Jahren aufzuarbeiten. Solche Erinnerungen verdrängt man, spricht nicht darüber, oder nur verklausuliert. Felix und Klara tun dies, indem sie über ein Radiofeature lachen, das aus dem Radio im Auto, in dem sie sitzen, nur fragmentarisch und schlecht verständlich durch die Lautsprecher im Tanzquartier zu hören ist. Dabei geht es um Aliens, und diese Aliens stehen für das Böse, das dem Bruder widerfahren ist, „bei jeder Berührung sein Leben zerstört hat“. Ganz selten wird Klartext gesprochen von den Geschwistern, lieber lachen sie hysterisch bei der Vorstellung, Aliens hätten sie entführt. Das Auto parkt auf einem schmutzigen Platz irgendwo im Nirgendwo blinkt und blinzelt vielsagend mit den Scheinwerfern und hat auch einmal etwas zu sagen. Können alle Traumata ausgebrannt werden? Schattenfiguren in der Lasershow. Das versteht man nicht, wie gesagt, die Anlage im Tanzquartier ist nicht die jüngste. Gesprochen wird Französisch, mitunter huschen in Sekundengeschwindigkeit englische Sätze über die hintere so Bühnenwand. Die Aufführungen in Deutschland haben auch eine deutsche (wohl ebenso fragmentarisch wie die englische) angeboten.
Die Geschwister steigen aus und sind auf einem fremden Planeten, das alte Vehikel stößt unablässig Nebelwolken aus, Mann und Frau bewege sich im Zeitlupentempo, schwerelos, vielleicht haben sie Angst wegzufliegen. Von einem Begräbnis wird erzählt, bei dem Klara so „furchtbar schluchzen“ musste, dass sie es dem Publikum vorführen muss. Nach dem Gelächter also hysterisches Schluchzen. Aus dem nebligen Hintergrund löst sich eine dritte Person, die möglicherweise Susanne heißt, ein Avatar sein kann, eine zweite Schwester, die Trauer, die Wut, die Erinnerung? Man weiß es nicht. Das durch den Missbrauch getötete innere Kind sitzt bewegungslos hinten im Auto und wird von Felix herausgeholt und in den Kinderstuhl gesetzt. Es ist eine Puppe (Regisseurin Vienne ist eine begabte und leidenschaftliche Puppenbauerin) mit strohblondem Haar, die ein Spielzeug in Händen hält, das sie im Lauf der Performance fallen lässt. Das wäre ein passendes Ende der Vorstellung, doch es sind erst 70 Minuten vergangen, 40 fehlen noch. Sie bringen nichts Neues. Schwester und Bruder im Auto nach einer Partynacht, endlich können sie miteinander reden. Zwar begeben sich Klara und Felix wieder in ihre fahrbare Klause, die nun in höllischem Rot erstrahlt und die Beiden mit Krach und Bums nach außen schleudert. Ein Unfall, Selbstmord, Aliens? Noch einmal Nebel, noch einmal die dritte Person, geheimnisvoll wie Orson Welles in Carol Reeds Film vom dritten Mann, noch einmal Laserspektakel, noch einmal unangenehm beklemmende Musik.

Gisèle Vienne hat ein Schauspiel konzipiert, eine Lasershow ist es geworden, doch das  Publikum darf sich eine theoretisch unwiderlegbare Basis klammern:

Extra Live eröffnet den Prozess des Denkens im Raum durch Erfahrung, den Körper, die Sprache und alles, was die künstlerische Sprache ausmacht. In dieser Arbeit ist es einem Bruder und einer Schwester gelungen, die gemeinsame traumatische Erfahrung, die von einer patriarchalischen Gesellschaft ausgeht und zur Verleugnung der Tatsachen führt und die ihre Enthüllung und ihr Verständnis ermöglicht. (Ausschnitt aus einem Interview von Vincent Théval mit Vienne, 2023. Übersetzung aus dem Französischen, Programmzettel.) Die Choreografin, Regisseurin und Puppenbildnerin Gisèle Vienne. © Karen Paulina Biswell / Centre National dela Dance

Gesehen habe ich vor allem ein überaus pathetisches lichttechnisch perfektes Event, den „subversivem Humor“, von dem die Choreografin im zitierten Interview spricht, habe ich nicht entdeckt. Die Laserchoreografie übernimmt die Regie des nahezu zweistündigen Abends. In Zusammenarbeit mit Vienne hat Yves Godin eine frappierende Lichtarchitektur aufgebaut, der Himmel küsst die Erde und versinkt im nebligen Morast, der als Projektionsfläche dient. Theo Livesey ist Felix, der traumatisierte Bruder.Die virtuellen Räume verengen sich, bis sie die drinstehende dritte Figur fast zerquetschen, weiten wich überraschend zum Tunnel mit Licht am Ende, die grünen, blauen, roten Finger huschen die Wände entlang bis ins Publikum, malen geometrische Muster auf den Bühnenboden, nur die Musik passt nicht in eine Diskothek. Die Komposition von Caterina Barbieri belästigt, versucht die Zeitlosigkeit und die sonderbare Stimmung der Geschwister hörbar zu machen, versickert bald im herrschenden Nebel und bleibt scheinbar bekanntes elektronisches Beiwerk.

Kaum sind die Lasergebäude zusammengesunken, die Zeichnungen erblasst, der letzte Strahl erloschen, die Show also (endlich) zu Ende, hebt schon der erste begeisterte Schaulustige die Hände zum fälligen Applaus. Ich muss jetzt nochmal zitieren, das Wortungetüm „das Wirkungsmächtige“, soll im Kontext erscheinen. In einer Vorschau auf die Aufführung von Extra Life im Kampnagel / Hamburg wird behauptet: Klara und Felix im blauen Licht der weichenden Nacht.

Das Theater von Gisèle Vienne gehört zum Wirkungsmächtigsten, was auf europäischen Bühnen zu sehen ist: Die französisch-österreichische Bühnenkünstlerin kombiniert Puppen- und Schauspiel, Choreografie, Licht, Sound und Bühnenbild zu einer derart intensiven Theatersprache, dass sie damit in tiefere Bewusstseins-Ebenen dringt – sowohl bei ihrem Publikum, als auch ihren Bühnenfiguren.

Viennes jüngste Inszenierungen (Wiener Festwochen: Crowd, 2018, L’Etang / Der Teich, 2022) sind nicht unbedingt als „Meilensteine der jüngeren Tanzgeschichte“ zu bezeichnen, wie gerne verbreitet wird. Es sind Shows, die mit ihrem Aufwand den Publikumsgeschmack treffen, aber den „Prozess des Denkens“ im Zuschauerraum nicht geöffnet haben.

Gisèle Vienne: Extra Life, Tanzquartier, 1., 2. März 2024.
Konzept, Choreografie, Regie, Szenografie:  Gisèle Vienne, Kreation & Performance in Kooperation mit Adèle Haenel, Theo Livesey, Katia Petrowick
Originalmusik: Catarina Barbieri, Sound Design: Adrien Michel, Licht: Yves Godin, Text: (in Zusammenarbeit mit Dennis Cooper) Adèle Haenel, Theo Livesey, Katia Petrowick
Fotos: © Estelle Hanania