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„Romeo und Julia“ unter Strom in der Vorstadt

Julia begegnet Romeo. Es funkt.

Es könnte eine Zeitungsmeldung sein: Freitod zweier Jugendlicher. Romeo M. und Julia C. geraten in die Hochspannungsleitung und sterben zuckend unter Starkstrom. Sie wollten es so, weil ihre Liebe nicht geduldet worden ist. Caroline Finn inszeniert William Shakespeares Drama „Romeo und Julia“ mit dem hervorragenden Ensemble TANZ LINZ im Musiktheater. Bei der Premiere am 7. Oktober zeigt sich Publikum lautstark begeistert.

Der Imker, Ilia Dergousoff, mitten im Kampfgetümmel. Um es gleich vorwegzunehmen: Die Britin Finn ist es nicht allein, die diese prägnante und aktuelle Choreografie geschaffen hat. Ein kompetentes Team steht ihr zur Seite, Catherine Voeffray als Kostümbildnerin, Till Kuhnert, Bühne und Romain Guion als Choreografischer Assistent. Und keineswegs zuletzt, eher als unverzichtbares Mitglied des sehr geschlossen wirkenden Teams, der Dirigent Marc Reibel. Liebe und Tod, Hass und Mordlust, Verzweiflung und, was das Titelpaar betrifft, auch deren jugendliche Hysterie, alles ist aus dem Orchestergraben zu hören, geht an Herz und Nieren, füllt den Raum. Auch im Pianissimo machen die anklingenden Todesdrohungen schaudern. Spiel- und Kampfplatz unter den Strommasten. In der Mitte Fleur Wijsman als Julia. Wenn Wut und Rachedurst, Kummer und Qual hervorbrechen, werden Ohren zu Augen und man möchte den Kopf einziehen, um nicht getroffen zu werden von den zuckenden Blitzen. Ein musikalisches Erlebnis der Sonderklasse, das Tränen fließen lässt, Tränen der Freude und Entspannung, Tränen des Mitleids und der Trauer. Ich wünsche, es würde eine Live Aufnahme von diesem Ereignis geben.
Caroline Finn lässt das bekannte Geschehen in einem etwas verwahrlosten Vorort spielen. Riesige Starkstrommasten dominieren die Bühne, im Hintergrund zeigt eine permanente Videoeinspielung Vögel auf grauem Himmel.  Bald weiß man, dass es Krähen sind, Todesboten, die in der zentralen Kampfszene wie Steine zu Boden fallen. Romeo (Lorenzo Ruta) ist ausgeeflippt, würgt Tybalt (Angelia Mattiazzi) ,wird zum Mörder und flieht ohne Abschied. Romeo und Julia leben jetzt, ihre Familien haben keine Macht, aber unterschiedliche Weltbilder, Andersdenkende, Fremde, die nicht die Sprache der Einheimischen sprechen, gehören ausgerottet. Hass besiegt die Liebe. Finn benötigt keine Pumphosen und keine Schwertkämpfe, keine verordnete Ehe für Julia und keine heimliche Trauung. Die Hochspannung im Inneren ist es, die zum Tod führt, Mercutio, Romeos Freud – Pedro Tayette beeindruckend biegsam im Solo, erschütternd, wenn er nicht sterben will und sich zuckend gegen die Stromschläge wehrt – stirbt ebenso wie Tybalt aus der Familie der Capulets. Die großgewachsene Tänzerin Angelica Mattiazzi ist der aufgepeitschte Cousin, den Romeo, dessen Trauer zur Aggression wird, erwürgt. Julia (Fleur Wijsman) ist die treibende Kraft. Wie ernst Romeo (Lorenzo Ruta) diese Liebe nimmt, weiß man nichEr verlässt Julia, um sein Leben zu retten.. Die aus dem Himmel gefallenen Vögel sammelt eine geheimnisvolle Figur, die, bloßfüßig (wie alle Mitwirkenden) im langen Mantel von Anfang an auftaucht und verschwindet und wieder auftaucht, um sich der Toten, Menschen wie Vögel, anzunehmen. Die Krähen versucht er, wiederzubeleben, bei den Menschen ist jede Hoffnung vergebens. Diese nicht definierte Figur könnte der Tod sein oder ein Engel, ein Priester (den shakespearschen Pater Lorenzo braucht Finn nicht) oder Totengräber. Die Choreografin nennt ihn den Imker, also lebensspendend, Schützer der Natur und Mahner der wild gewordenen, jegliche Vernunft leugnenden Menschlein. Der Imker wird von Ilia Dergousoff perfekt interpretiert, sodass er mitunter unsichtbar auf der Bühne agiert. Ein bekanntes Thema aus dem 1. Akt: der Tanz der Ritter. Auch in Linz darf die Intensität des stampfenden Rhythmus, der das Blut in Wallung brngt, nicht fehlen.  Der 2 m große Tänzer, in Portland / Oregon geboren und in Kanada aufgewachsen, ist seit der Spielzeit 2022/23 bei TANZ LINZ.
Fleur Wijsman, mitten in der Pandemie, 2021, engagiert, ist eine von Todesahnungen gebeutelte Julia. Wenn Romeo nach dem Mord an Tybalt ohne Abschied verschwindet, weiß das verliebte Mädchen nicht mehr aus noch ein, fällt in ein Koma. Romeo, Lorenzo Ruta, ebenfalls seit 2018 / 19 Ensemblemitglied, hält sie für tot, lässt sich auch vom Imker keines anderen belehren. Er wirft sich in den Hochspannungskreis. Wir wissen, dass dieser Tod unsinnig, gedankenlos, unnötig ist. Julia erwacht, wie vorgesehen, und schließt sich ihrem Geliebten an.Romeo hält Julia für tot. Ein fataler Irrtum. (Lorenzo Ruta, Fleur Wijsman)
Doch es ist nicht alles Tod und Trauer, Finn gelingt es, dem aktuellen immer wieder magische Momente einzubauen und lässt für kurze Zeit die beiden Gangs auch miteinander fröhlich sein. Am Höhepunkt ihrer Liebe sitzen die Kinder, die R & J noch sind, auf der Wippe und spielen das Machtspiel. Wer ist oben und bleibt es auch? Julia natürlich, was schon bei der ersten Begegnung zu sehen ist: Er verharrt bei ihrem Anblick, sie aber kriecht auf ihn zu, packt seine Hand, hält sie fest. In jeder Szene ist Julia die treibende Kraft.  Wie schön, wenn eine Frau das Drama der Männer inszeniert. Der Imker als Totengräber. Er entsorgt Julias Leiche. (Ilia Dergousoff) Das Linzer Publikum, nicht von 80 und mehr Prozent unruhigen, ahnungslosen Touristen durchsetzt, folgt dem Geschehen mit Spannung und genießt auch jede Stille, die der Komponist und auch die Choreografin eingebaut haben. Erst wenn der Imker Julia begraben hat, der schwarze Vorhang den Boden berührt und Marc Reibel den Stab gesenkt hat, wird gejubelt und dem Ensemble samt dem Team gedankt. Caroline Finn hat ein bemerkenswerte Österreich-Debüt gefeiert.
Das Ensemble TANZ LINZ steigert seit der neuen Direktion von Roma Janus seine Qualität kontinuierlich. Kein Wunder, dass bei der Premiere viele Wiener Gesichter in den Reihen zu sehen waren. In Linz wird der Tanz gepflegt und nicht das Ego.

Caroline Finn / Sergej Prokofjew: „Romeo und Julia“, Uraufführung, 7. Oktober 2023, TANZ LINZ im Musiktheater.
Choreografie und Inszenierung: Caroline Finn. Bühne: Till Kuhnert. Kostüme: Catherine Voeffray. Licht: Florian Sigl. Dramaturgie: Roma Janus, Roman Guion. Romeo und Julia im Glück. Vor Freude wirft er sie in die Höhe, sie landet auf seiner Schulter. Nahezu klassisch..Tänzer:innen: Lorenzo Ruta (Romeo), Pedro Tayette (Mercutio), Yu-Teng Huang, Elisa Lodolini, Pavel Povraznik, Nicole Stroh, Hinako Taira (Montague-Gang); Fleur Wijsman (Julia), Angelica Mattiazzi (Tybalt), Sofia Bisci, Matteo Cogliandro, Kayla May Corbin, Mischa Hall, Katharina Illnar, Arthur Sicilia (Capulet-Gang); Ilia Dergousoff (Imker).
Dirigent: Marc Reibel, Bruckner Orchester Linz.
Fotos: © Philip Brunnader fotografierte die Hauptprobe am 27. September 2023.
Nächste Vorstellungen: 13., 20. Oktober 2023. Letzte Vorstellung: 11. Juni 2024.