Sisyphos singt in der Arena nur das eine Lied
Es ist, was der Titel sagt. One Song, die jüngste Kreation der belgischen Künstlerin Miet Warlop, besteht aus einem einzigen Lied, das von sportlichen Musikern und einer musikalischen Turnerin eine Stunde lang wiederholt wird. Nicht nur die Arena auf der Bühne explodiert bei jeder Aufführung, auch im Tanzquartier hat der Zuschauerraum vibriert, als One Song im Rahmen von Wien modern am 10. und 11.11. das Publikum in der Zeitschleife festgehalten hat.
In der Arena wärmen sich die Wettkämpfer:innen auf, das Publikum schwingt die bunten Schals, der Cheerleader tänzelt nervös im Kreis, die Platzsprecherin schmettert Phrasen, die niemand versteht. Business as usual. Glaubt man. Doch der sportliche Wettbewerb im Stadion ist zugleich ein Konzert, vier Athleten und eine Turnerin kämpfen weniger um den Sieg als ums Durchhalten und bilden zugleich eine Band (Geige, Kontrabass, Keyboard, Schlagzeug und Gesang). Wie der renitente Sisyphos, der den Tod überlistet hat und zur Strafe auf immer einen Stein, der ihm immer wieder entkommt, einen Berg hinaufwälzen muss, stellen sich die Fünf mutig den Herausforderungen und unterwerfen sich den immer schneller werdenden Schlägen eines Metronoms. Die Fans auf der Tribüne feuern sie an und zeigen auch ihr Missfallen, fallen in den Rhythmus der Performance und geraten ebenso außer Atem wie die athletischen Musiker und die geigende Gymnastin. Selbst der Cheerleader in seinem kurzen weißen Röckchen zappelt unaufhörlich so schnell im Kreis, wie das unerbittliche Metronom es verlangt.
Run for your life / till you die / till I die / till we all die.
Knock knock / Who’s there / It’s your grief from the past / not possible / For all time sake / Cause / Grief is like a rock / in your head / it’s hard it’s rough/It’s always there …
Mit ihrem Gedicht erinnert Miet Warlop sich und das Publikum an den Schmerz über den Tod ihres Bruders Jesper, den sie 2005 in Sportband/Afgetrainde Klanken verarbeitet hat. Das Erinnern an frühere Stücke hat Methode, so tauchen diesmal etwa auch Teile von Ghost Writer and the Broken Hand Break (Tanzquartier 2020) in der Arena auf.
Musikerinnen und Musiker wissen, dass auch das Musizieren eine sportliche Leistung verlangt. Was Warlop von dem Quintett verlangt, führt allerdings den Musiksport in extremis. Energie und Anspannung übertragen sich auf das Publikum, 60 Minuten dauert der eine Song samt Wiederholungen und Refrains, die Athleten keuchen, schwitzen, turnen, die Geigerin schwebt, das Publikum gerät in Trance. Aufregend, anregend, hinreißend.
Elegant und sicher balanciert die Geigerin auf dem Schwebebalken, während sie immer wieder die gleiche Melodie spielt; der Keyboarder springt indessen zu wie ein Gummiball in die Höhe, um sein Instrument, das ganz oben auf einer Sprossenwand thront, zu erreichen. Vergeblich. Der Kontrabassist liegt auf der Matratze, trägt einen Boxerhelm und versucht durch permanente Sit-ups die Saiten zum Klingen zu bringen. Als er es einmal mit den Fingern versucht, wird er vom Publikum ausgepfiffen. Auch der Sänger ist gefordert, während er das traurig-tröstliche Lied zum Besten gibt, kämpft er mit dem schneller und schneller werdenden Laufband, das ihn vorantreibt und doch nicht von der Stelle kommen lässt. Der Schlagzeuger rennt und stolpert durch die gesamte Arena, seine Instrumente sind auf der ganzen Bühne verteilt.
So sportlich trainiert diese 12 Performer:innen sind, die unaufhörlichen Wiederholungen ermüden Geist und Körper, Wettkampfteam und Zuschauergruppe machen schlapp, schnappen nach Sauerstoff, trocknen den Schweiß, stehen wieder auf und machen weiter.
All we need is / That it finds its a way / Grief is like a liquid / and it never goes away. I All we need is / That it find its way / The Earth beneath your feet / Day after day after day after day …
Im letzten Drittel der vorgesehenen 60 Minuten übertreibt das dirigierende Metronom, wird so rasend schnell, dass keine(r) mehr nachkommt. Die Sprecherin muss ihren Platz samt dem dritten Bein verlassen und für Ordnung sorgen. Erholt können die Gladiatoren und ihre Bewunderer wieder von vorne beginnen, bis die Luft dünn wird, der Schweiß in Strömen rinnt und die Muskeln zu zittern beginnen. Die Grenzen fallen, die Loops, der hämmernde Rhythmus, die Rasenden in der Arena sind so mitreißend, dass ich selbst ganz berauscht bin, angekettet an die Laufmaschine, komme ich wie der unermüdliche Sänger nicht vom Fleck.
Run for your life / ’til you die / ’till I die / ’till we all die
Miet Warlop und die auf der Bühne Kämpfenden, Musizierenden, Zuschauenden erzählen vom Schmerz, der niemals endet, aber auch vom Leben. Ist das nicht auch ein endloses Lied, mit einem Refrain vom Rennen, Fallen und Aufstehen? In stetiger Wiederholung, rennen, fallen, aufstehen, rennen, fallen, aufstehen, rennen, fallen, aufstehen, bis wir endgültig liegen bleiben.
Oh you think you are silent / And in a bubble / But / Everyone around you smells your trouble.
Zum Nachdenken bleibt keine stille Minute. Auch wenn das feierliche Absingen der Hymne nicht von allen goutiert wird, ist der Applaus fällig. Das Publikum reißt es von den Sitzen und den Jubel aus der Kehle. Darstellerinnen und Darsteller sind es gewohnt. Völlig zu Recht findet One Song auf seinen Reisen quer durch Europa überall ein hochemotionales, begeistertes Publikum.
Miet Warlop / Irene Wool & NTGent: One Song. Histoire(s) du Théâte IV, Uraufführung: Festival d’Avignon, Juli 2022. Aufführungen im Rahmen von Wien modern im Tanzquartier 10., 11. November 2023.
Mit: Simon Beeckaert, Elisabeth Klinck, Willem Lenaerts, Milan Schudel, Melvin Slabbinck, Joppe Tanghe, Karin Tanghe, Wietse Tanghe. Und Imram Alam, Stanislas Bruynseels, Judith Engelen, Flora Van Canneyt.
Konzept, Leitung, Regie, Text: Miet Warlop; Textberatung: Jerœn Olyslægers.
Musik: Maarten Van Cauwenberghe; Sounddesigne: Bart von Hoydonck.
Fotos: © Michiel Devijver
Die kursiv gedruckten Zeilen sind Zitate aus dem „einen Song“, dem von Maarten Van Cauwenberghe vertonten Gedicht von Miet Warlop.